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Bücher aus dem Zeitgut Verlag

Ich war Kamerad Pferd

Oswald Döpke

Ich war Kamerad Pferd

Meine grotesken Kriegserlebnisse 1942-1945. Aus der Reihe 'Sammlung der Zeitzeugen'. Mit Fotos.
Herausgegeben von Jürgen Kleindienst.

Zeitgut Verlag GmbH
Oktober 2003  
kartoniert 
105 Seiten
3933336678

 

 

€ 12,80 kaufen


Oswald Döpke, geboren 1923 in Eldagsen bei Hannover. 1940–42 Studium an der Braunschweigischen Staatsmusikschule; 1942–45 Soldat; Verwundung, Gefangenschaft; 1946–48 Schauspieler, 1949–62 Chefdramaturg, Regisseur und ab 1953 Leiter der Hörspiel- und TV-Spielabteilung von Radio Bremen; 1963–87 Leit. Regisseur im ZDF; Gastprofessor Mozarteum Salzburg; Regisseur mehrerer hundert Hörspiele u. Fernsehfilme und von fünfzig Theaterinszenierungen (u.a. Münchner Kammerspiele, Thalia-Theater Hamburg), Autor von Hör- und TV-Spielen, Theaterstücken; 1994 Veröffentlichung von Briefen Ingeborg Bachmanns in der Kulturzeitschrift »du«; Auszeichnungen u.a. Prix Italia, Kriegsblindenpreis, 1. Preis »Goldenes Prag«, »Taube« von Monte Carlo, »Silberne Maske« (beste Inszenierung der Spielzeit, Thalia-Theater); Oswald-Döpke-Archiv Akademie der Künste, Berlin.
Oswald Döpke ist verheiratet, hat zwei Kinder und drei Enkel. Er lebt in München.

Inhalt
Kamerad Pferd I – Prolog 9
Truppenbetreuung 15
Kamerad Pferd II 21
Lieschen 25
Kamerad Pferd III 29
Maria und Josef 33
Partisanenjagd 39
Fricke 41
Kamerad Pferd IV 45
Steinpilze 49
Von Zuhause nach Zuhause I 51
Von Zuhause nach Zuhause II 57
Ein guter Freund 63
Der Kopf 69
Kamerad Pferd V 71
Ulfilas – Requiem für ein Pferd 75
War er verrückt? 81
Kamerad Pferd VI 83
Kamerad Pferd VII 85
Auf der Heide blüht 89
Kamerad Pferd VIII 91
Epilog 103
Nachwort 105
Kamerad Pferd I – Prolog



Kamerad Pferd I - Prolog

Frankreich, Juli 1942


»Wenn Sie die Oberlippe, Sie können auch Nase dazu sagen, durch diese Schlaufe ziehen und den Holzgriff um seine Achse drehen – sehen Sie: so wie ich das jetzt mache! –, bleibt das Tier wie erstarrt stehen. Schauen Sie sich das an! Der enorme Schmerz, den die »Nasenbremse«‚ so heißt das Gerät, in diesem besonders empfindlichen Körperteil verursacht, ermöglicht Ihnen, selbst komplizierte Operationen durchzuführen, ohne daß Sie zu weiteren Anästhesiemitteln greifen müssen. Dieser Schmerz überdeckt den der meisten therapeutischen Eingriffe. Sollte das Pferd aber trotzdem versuchen, auszubrechen, können Sie zusätzlich auch noch Ohrenbremsen einsetzen. Sie brauchen die Schlaufe dann nur – so wie ich das am Maul demonstriert habe – über das Ohr zu ziehen, das Ohr ist ähnlich empfindlich, und das Pferd rührt sich nicht mehr von der Stelle. Im Notstand – denn Sie haben ja nicht immer einen Operationssaal zur Verfügung – können Sie mit dieser Art Narkose sogar Kolikoperationen machen. Kapiert? Nein? Gut: Ich zeige es Ihnen noch einmal.«
Die Augen des Grauschimmels traten aus den Höhlen. Er zitterte. Seine Flanken gingen wie ein Blasebalg. Der mächtige Leib war aufs äußerste angespannt. Er schweißte stark. Ich sah entsetzt auf den etwa 25 Zentimeter langen Holzgriff mit dem kurzen Strick, der, durch zwei Löcher im Abstand von zehn Zentimetern geführt, eine Schlaufe bildete, in der nun die weiche, warme Oberlippe des Tieres steckte, um gut 75 Grad grotesk verdreht.
»Und jetzt kommen Sie einmal her! Einer nach dem anderen! Beweisen Sie mir, daß Sie aufgepaßt haben!«
›Nein!‹ dachte ich. ›Nein, das kann ich nicht! Das werde ich nie können!‹
Ich trat an das Pferd heran.
»Unser Sänger!« lachte eine Stimme, als ich wieder zu mir kam.
»Wer kann singen?«
So hatte es heute morgen auf dem Bahnhof von Montreuil-sur-Mer angefangen. Nein, wir hatten uns nicht verhört: Ein Offizier – seine Uniform war grün paspeliert – stand vor den Neuankömmlingen aus der Heimat, die zur Verstärkung der Besatzungsarmee nach Frankreich verlegt worden waren, und fragte tatsächlich: Wer kann singen?
»Der hier!« Karl stieß mich an und zeigte auf mich.
»Treten Sie mal vor!« sagte der Grünpaspelierte. Seine Stimme klang freundlich und gar nicht militärisch. Als ich mich nicht rührte: »Nun kommen Sie schon, genieren Sie sich nicht!«
Ich machte zwei Schritte und sah mich um. Karl grinste. (»Hör bloß auf, ich bin nicht so leicht zu rühren«, hatte er im Waggon gesagt, wenn ich mit meiner ausgebildeten Gesangsstimme renommierte.) Als ich vor ihm stand, spitzte der Grünpaspelierte die Lippen und sang: Do-re-mi-fa-sol. Er hatte einen hübschen, kleinen, etwas nasalen Tenor. ›Österreicher‹, dachte ich.
»Jetzt Sie!«
Ich räusperte mich, dann sang ich die Tonleiter nach. »Ein Bariton!« Er schien begeistert. »Ein Bariton! Den wir so dringend brauchen!«
Er schlug mir anerkennend auf die Schulter. Wo war ich hier?
»Jetzt fehlt nur noch ein Baß!«
Aber einen Baß fand er an diesem Tag nicht mehr.

Das war heute morgen gewesen. Nun war es Nachmittag, und Oberveterinär Dr. Hollung demonstrierte den Neuankömmlingen, neben mir noch sechs Bauernsöhnen, die mit Pferden aufgewachsen waren, was ein Veterinärgehilfe, denn das war ich jetzt, als erstes zu lernen hat.
Wenn ein gegen seinen Willen zum Infanteristen gedrillter Schauspielschüler der Laune des Zufalls in Gestalt des Zahlmeisters einer Veterinärkompanie begegnet – denn das war der Grünpaspelierte –‚ der weniger an Soldaten als an Sängern interessiert ist, glaubt er nur zu gern, er habe den Krieg schon gewonnen. Das war ein Irrtum.
Von Beruf Musiklehrer an einem österreichischen Gymnasium, hatte sich der Zahlmeister mit der Aufstellung eines Chores einen Herzenswunsch erfüllen können, gerade jetzt, nach dem gewonnenen Frankreichfeldzug, jetzt, wo auch die Veterinärkompanie weniger mit der Behandlung von Kriegsverletzungen als mit Schlagverletzungen und Geschirrschäden beschäftigt war, Erkrankungen also, wie sie auf Bauernhöfen alltäglich sind. Außerdem verstand er nichts von Pferden und gab gern zu, daß sie ihm »unheimlich« seien.
Dafür verstand der Kompaniechef um so mehr davon. Oberstabsveterinär Dr. Isenberg hatte »in dieser ruhigen Zeit« damit begonnen, einen Reitstall aufzubauen, dessen Ruf weit über die Grenzen der Division hinaus erstrahlte. Es verging kein Wochenende, an dem die Herren der höheren Stäbe nicht Jagden ritten, Hindernisse sprangen, sich im Dressurreiten übten oder mit Einfahrwagen und Sechsergespann Gutsherrengewohnheiten pflegten, von denen sie daheim vermutlich nicht einmal zu träumen wagten. Im roten Rock und mit Samtkappe versteht sich. Aber der Höhepunkt waren die abendlichen Diners. Sie hatten breughelsches Format.
Dazu sang der Chor »Wie es daheim war« und »Jetzt gang i ans Brünnele«, und nachdem der Zahlmeister nun auch noch den ersehnten Bariton mit Soloqualitäten präsentieren konnte – der bisher fehlende Baß wurde von der Bäckereikompanie ausgeliehen –, wagte er sich an den Jägerchor aus dem »Freischütz«, den er für den Hubertustag einstudierte.

An diesem Tag sollte ich mich nicht nur als Bariton bewähren – was zur Zufriedenheit von Dirigent und Publikum dann auch gelang –, ich assistierte auch zum ersten Mal bei einer Bulbusextirpation und erntete das besondere Lob des Chefs. Ein außerplanmäßiger Assistenzveterinär war schwer erkrankt in ein Heimatlazarett zurückverlegt worden, und da seine Position nicht neubesetzt werden konnte, versuchte man es mit dem »Sänger«.
Nach weiteren drei Wochen hatte ich gelernt, was eine unerfahrene, aber aufmerksame Hilfskraft‚ die ihre Chance begreift, bei der Behandlung von Hufkrebs und Hufknorpelfisteln‚ Widerristschäden, eitrigen Phlegmonen und Gelenkseröffnungen lernen kann und bald heraus hat, wie man mittels eines Maulgatters bei schlechten Futterverwertern Zähne raspelt‚ bei Neuzugängen Blutproben entnimmt und unter dem Mikroskop Erithrozyten und Leukozyten auszählt.
Gleich in der ersten Woche meiner Assistenz war es zu einem Unglücksfall gekommen, der mich tief deprimierte und meine Karriere als Veterinärgehilfe schon wieder zu beenden schien. Nachdem ich den Status praesens einer Fuchsstute aufgenommen und die Kanüle zur Blutentnahme in die große Rollader gestochen hatte, bemerkte ich, daß mir das Glasgefäß zum Auffangen des Blutes fehlte. Als ich in den Nebenräumen endlich gefunden hatte, was ich brauchte, lag mein Patient bereits im Stroh und war verblutet. Ich hatte vergessen, die Kanüle aus der Ader zu ziehen.
Zu meiner Überraschung wurde ich nicht bestraft. Lehrgeld müsse jeder zahlen, sagte Isenberg, und da die Adern der Pferde dicker seien als die der Menschen‚ seien auch die Kanülen dicker. Er lachte schallend und war gekränkt, daß ich seine Begeisterung nicht zu teilen schien. »Gott erhalte Ihnen Ihre empfindsame Künstlerseele!«
Und dann erklärte er mir, »wie man solche Mißgeschicke und nicht nur solche bei uns hier repariert!«
Bei Pferden unterscheidet die Dienstvorschrift für Veterinäre zwischen 120 Krankheiten, nennt aber nur sechs, an denen ein Tier auch sterben darf, soll es danach zu keiner gerichtlichen Untersuchung kommen. Aber Krankengeschichten seien zuerst einmal Papier und das sei bekanntlich geduldig, erklärte Isenberg, nahm das Krankenblatt meines verstorbenen Patienten zur Hand und sagte: »Passen sie mal auf!« Die Stute hier sei wegen eines harmlosen Geschirrdrucks eingeliefert und sachgerecht behandelt worden, und nun verende sie an einer – er nahm den Stift zur Hand und schrieb und hielt mir das Geschriebene unter die Nase – »Gelenkseröffnung infolge Schlagverletzung in unseren Ställen. Punkt! Kapiert?!«
Und an Gelenkseröffnungen dürfen Pferde nach der Vorschrift sterben. So einfach war das.

Als ich meinen Dienst antrat, war Dr. med. vet. Isenberg, im Zivilberuf Professor an einer tierärztlichen Hochschule, seit kurzer Zeit damit beschäftigt, dem Reitstall einen Glanz zu verleihen, der seinesgleichen suchte: Er stellte bestimmte Pferderassen, nach Haarfarben geordnet, zu Zügen zusammen. Das hatte es noch nicht gegeben. Er hatte mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, daß »sein« Künstler seine Begeisterung für die Schönheit edler Tiere teilte. Und außerdem hatte er sich als lernfähig erwiesen.
So weihte er mich denn in ein Geheimnis ein‚ das – wie sich bald herausstellte – die meisten kannten. Der berühmte Reitstall war illegal. Er bestand fast ausschließlich aus solchen Pferden, die an den berühmten sechs Krankheiten gestorben waren. Also toten Pferden. Ich habe ihn nicht gefragt, ob er Gogols »Tote Seelen« kenne.
Die Sache begann mich zu reizen.
Um dem Reitstall ständig neue erstklassige Tiere zuführen zu können, bedurfte der Chef eines diskreten Mitverschworenen, der in der Lage war, die Krankengeschichten variationsreich zu manipulieren. Da der erkrankte Assistenzveterinär nicht mehr zur Verfügung stand, hatte Isenberg mich für diese delikate Aufgabe ausersehen.
Wenn sein pferdenärrisches Auge in den folgenden Monaten einen neuen »Crack« für den Reitstall erspäht hatte, trat ich in Aktion: Ich legte eine Krankengeschichte an, deren Modellfall so aussah, daß das auserwählte Tier nach seiner Einweisung unter Aufbietung aller veterinärmedizinischen Künste behandelt wurde und danach als »geheilt« an die Vorratsstaffel entlassen werden konnte, wo es dann noch ein paar Wochen als Rekonvaleszent verblieb. In der Vorratsstaffel dann erkrankte es an einem der sechs lebensbedrohlichen Leiden, wurde daraufhin in die Lazarettstaffel zurücküberwiesen, wo es – trotz aufopfernder Betreuung – »korrekt« verendete.
Hatte sich der Vorbesitzer eines auf diese Weise verblichenen Tieres zu einer unserer reiterlichen und kulinarischen Veranstaltungen angesagt – der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, daß ich mich während der abendlichen Feste immer stärker als Solist unseres Chores profiliert hatte –, wurde das »verstorbene« Pferd bis zur Abreise seines ehemaligen Besitzers in irgendeinem Stall versteckt. Schwieriger gestaltete sich das Versteckspiel‚ wenn wir eine größere Reitgesellschaft mit schönen Pferden zu versorgen hatten, denn es war zu vermuten, daß eines der Tiere einem der Gäste gehörte. Und da passierte es schon einmal, daß Herr Oberst Meier plötzlich fasziniert feststellte, wie sehr der Wallach des Herrn Oberstleutnants Schulze doch seinem verblichenen »Rondo« gleiche, »bis auf Milchmaul und Stirnflocke«, ja, er möchte wetten, auch die Gänge seien die gleichen. Doch unwiderlegbar bewies die Krankengeschichte, welche Wunder die Natur hervorbringt.
Nachdem ich mich derart qualifiziert hatte, wartete Ende Oktober ein besonderer Vertrauensbeweis auf mich.


Kamerad Pferd II
Frankreich, Ende Oktober 1942

Es waren vier Schreibmaschinenseiten voller Tippfehler. Während ich sie überflog, spürte ich, wie er mich beobachtete.

... Dann hat sich mit faulendem Dachstroh ernährt
Und weitergehungert Kamerad Pferd,
Verwundet, erfroren, von Feuer versehrt
Behalten im Herzen wir Kamerad Pferd ...

»Aber...« Ich sah Isenberg an. »Aber ...«
»Kein Wort!« Er unterbrach mich sofort. »Sie können dazu sagen, was Sie wollen. Doch Sie werden dieses Gedicht beim Divisionsstab vortragen! Schon nächste Woche! Auswendig! Und das ist ein Befehl! Im übrigen habe ich Sie schon angekündigt.«
Ich versuchte es noch einmal: »Aber das ist ein ganz fürchterlich sentimentales Machwerk! Auch formal ganz indiskutabel!«
»Keine Widerrede! Wenn ich schon einen Künstler in der Kompanie habe, muß er es auch beweisen!«
»Aber es ist auch viel zu lang: 28 Strophen!«
»Machen Sie fünfzehn daraus. Doch die müssen hinhauen! Sie ahnen ja nicht, wie so etwas ankommen wird! Und noch etwas: Das Gedicht hat ein Herr aus unserer Division verfaßt, dem ich sehr verpflichtet bin. Sie verstehen?!«
Ich verstand. Ich hatte den Namen des Autors nicht übersehen. Oberstveterinär Dr. Schröder war Isenbergs unmittelbarer Dienstvorgesetzter und sein Protektor. Er kannte und deckte das »Reitererholungsheim Isenberg« und war ein regelmäßiger Gast. (»Kompliment, Herr Isenberg, Sie garantieren den Stäben das angenehmste Wochenende zwischen Amiens und der belgischen Grenze!«)
»Blamieren Sie mich ja nicht, sonst geht die schöne Zeit bei uns für Sie zu Ende. Ich kann Sie ohnehin nur mit größter Mühe bei den rückwärtigen Diensten halten. Ihr Jahrgang gehört an die Ostfront und da wird kräftig geschossen, falls Ihnen das entgangen sein sollte!«

Isenberg hatte sich nicht getäuscht: Als die fünfzehn Strophen des Hohen Liedes vom guten Kameraden Pferd verklungen waren, herrschte ergriffenes Schweigen. Dann erhob sich der Divisionskommandeur, räusperte sich und begann: »Brav, wirklich brav ...«, seine Stimme versagte. Nachdem er einige Male geschluckt hatte, nahm er einen neuen Anlauf: »Herr Isenberg, ich wünsche, daß dieses wunderbare Gedicht in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift ›Der Reiter‹ erscheint!«
Die Herren begannen zu klatschen. Isenberg sah zu Schröder hinüber, Schröder wurde blaß. Ich wußte, was in ihm vorging. Er hatte seine Strophen nur mehr am Refrain wiedererkannt, am sich fünfzehnmal wiederholenden »Kamerad Pferd«. Und nun sollte er das Gedicht einsenden.
Nein, es war kein lyrisches Meisterwerk geworden, was ich da aus dem originalen Schröder zusammengebastelt hatte, wirklich nicht; und es war auch in dieser Form nicht weniger sentimental und unaufrichtig. Im Gegenteil: Durch die Verdichtung auf nur fünfzehn statt der ursprünglichen 28 Vierzeiler machten sich die Verdienste des Kameraden Pferd nun derart die Rangfolge streitig, daß sie die Zuhörer wie eine geballte Ladung trafen, unter der sie sich nur noch wegducken konnten. Einige von ihnen aber hatte es voll erwischt. Bereits bei der achten Strophe hatte der Stabschef begonnen, intensiv sein Monokel zu putzen, was von den anderen scheinbar als Ermutigung verstanden worden war, nun ihrerseits der Rührung freien Lauf zu lassen.
Und wieder machte ich eine Erfahrung, die mich an meine Auftritte als Kind von sechs, sieben Jahren auf der Bühne des heimatlichen Ratskellers erinnerte, wenn ich mein Publikum zu verachten begann, weil es Beifall spendete, obgleich mir mein Vortrag mißglückt war, aber trotzdem spürte: Auch der falsche Beifall ist süß.
Isenberg rettete Schröder. »Herr General, ich denke, daß Herr Schröder es billigen wird, wenn mein Oberreiter ...« – ich war bei der letzten Beförderung nicht, wie erhofft, zum Gefreiten, sondern nur zum »Oberreiter«, dem niedrigsten Rang, ernannt worden, da Isenberg zu befürchten schien, meine Sonderstellung dürfe vor den anderen nicht auch noch bei der Beförderung herausgestrichen werden; so trug ich nun, anstelle des Gefreitenwinkels nur einen Stern auf dem linken Ärmel – » ... wenn mein Oberreiter das Gedicht, das er so brav aufgesagt hat«, er sah mich gönnerhaft an, »noch einmal an unseren Dichter, und das ist Oberst Schröder, wie wir alle erlebt haben, zurückgibt, für eventuelle Korrekturen ...«
Schröder blühte dankbar auf. »Sehr gut«‚ sagte der Kommandeur. »Sie sind doch sicher damit einverstanden, lieber Herr Schröder?« Schröder nickte bereitwillig. »Und Sie, Herr Isenberg«, der General wandte sich an den Chef, »werden mir noch eine Bitte erfüllen: In den nächsten Wochen erwarte ich hohen Besuch: Der Oberbefehlshaber unserer Heeresgruppe hat sich mit seinen Herren angesagt. Ich bin sicher, Sie werden unseren jungen Freund hier«‚ und er sah väterlich zu mir herüber, »für zwei, drei Tage zu mir abstellen. Der Feldmarschall ist ein begeisterter Reiter. Er wird seine Freude haben!«

Vierzehn Tage später kam der angekündigte Besuch. Der Feldmarschall und seine Herren hatten ihre Freude.
Der »Siegeszug« – ich kann es nicht anders nennen – eines Gedichtes nahm seinen Anfang.

Kamerad Pferd III
Rußland, Januar 1943

Im Januar 1943 waren wir nach Rußland verlegt worden. Stalingrad war gefallen. War das der Anfang vom Ende?
Die Veterinärkompanie lag im Mittelabschnitt, in der Nähe von Roslawl.
Wir hatten über 600 Patienten. In Frankreich waren es höchstens 300 gewesen. Und hier hatten wir auch noch mit Krankheiten zu tun, die niemand kannte. Eine dieser neuen Krankheiten befiel nur Kaltblüter. Sie verschonte die russischen Panjepferde, die anscheinend gegen die Erreger immun waren. Das brachte uns auf die Spur. Aber es dauerte Wochen, und viele Patienten verendeten, bis wir herausfanden, daß diese Krankheit durch Blutkörperparasiten verursacht und von Zecken übertragen wurde. Endlich hatte man auch einen Impfstoff entwickelt, der aber nur wirksam war, wenn er unmittelbar nach dem Zeckenbefall gespritzt wurde. Es schien aussichtslos, unsere Patienten ständig nach Zecken abzusuchen. Bei mehreren hundert Pferden eine unlösbare Aufgabe. Die Krankheit hieß Piroplasmose.
Ein ähnlich unlösbares Problem stellte die Milbenpest dar. Grab- und Saugmilben fraßen die Tiere kahl. Rappe und Schimmel waren nicht mehr zu unterscheiden. Es herrschte Chaos: Welches Pferd gehörte welcher Einheit? Einzige Hilfe boten die Hufbrandnummern im linken Hinterhuf; aber die waren oft nicht rechtzeitig erneuert worden und bereits ausgewachsen.
Da die Fronten zum Stehen gekommen waren, von gelegentlichen Einbrüchen in die »deutsche Abwehrfront« abgesehen, gab es nur mehr wenige verwundete Pferde.
Doch das »Kurhotel Isenberg« florierte auch hier. Starb ein vordem gesundes Tier, lud das Feldtelefon die Stabsoffiziere zum Mahl. Ein Pferdeschnitzel kann eine Delikatesse sein. Vor allem der Sauerbraten. Hier das Rezept: Drei Tage lang in einer Marinade ziehen lassen, dreimal täglich wenden, dann gut trocknen, mit einer Sauce aus süßer Sahne, Johannisbeergelee, Rosinen, Korinthen und einem Schuß Rotwein abschmecken und in Butter und Schmalz fünf Minuten lang bei großer Hitze von allen Seiten anbraten. Eine unbeschreibliche Köstlichkeit. Das konnte die Heimat nicht bieten.
Deshalb machten viele Frontoffiziere, bevor sie zum Urlaub in die Heimat fuhren, bei uns Station. Zum Auftanken, bevor zu Hause die Bomben fallen, sagten sie. Als Mitbringsel für die Lieben daheim nahmen sie ein Stück von unserem berühmten Bärenschinken mit, getrocknetes Pferdefleisch. Und auf dem Weg zurück zur Front legten sie bei uns noch einmal eine Pause ein. In diesem Jahr wurden wir so etwas wie ein Erholungsheim im Niemandsland. Irgendwo »da vorn« lagen die Russen, irgendwo »da hinten« lauerten die Partisanen, und »daheim« nahm der Bombenkrieg auf die deutschen Städte zu. Selbst wenn sich eine großkalibrige Granate einmal zu uns verirrte, bestand der Krieg für die Veterinärkompanie vornehmlich aus vorbeikommenden Sanitätswagen auf dem Weg zur Lazarettkompanie, verwundeten Pferden und Gerüchten »von da vorn« und solchen »von zu Hause«. Die letzteren allerdings wurden immer deprimierender.

Und dann gab es immer noch »Kamerad Pferd«.
Aus dem Titel des Gedichtes war mittlerweile so etwas wie mein »Künstlername« geworden. Kaum einer redete mich anders an. Kein 30. Januar, kein »Führer-Geburtstag«, kein 1. Mai, keine Oster- oder Pfingstfeier ohne das Lied vom nie aufbegehrenden, opferwilligen Kameraden.
Doch im Gegensatz zum idyllischen Frankreich des Jahres 1942 hatte die Anteilnahme der Zuhörer eine neue Dimension bekommen: Der Krieg war nicht mehr zu gewinnen, das ahnten jetzt viele, auch wenn sie den Gedanken, daß er bereits verloren war, nicht auszusprechen, vielleicht auch nicht einmal zu denken wagten.
Es war eine andere Art von Rührung, die sie jetzt ergriff, wenn sie den Versen lauschten, die das Hohe Lied von der armen, geduldigen, widerspruchslosen, schuldlos leidenden Kreatur sangen.

... Dann hat sich mit faulendem Dachstroh ernährt
Und weiter gehungert, Kamerad Pferd ...

Das klang im Russland des Jahres 1943 anders. Da kam nicht mehr nur Mitleid auf, da meldeten sich eigene Zweifel, da war etwas von verlorenen, vergeblichen Hoffnungen, auch von Scham, und bei einigen wohl auch Erkenntnis und aufkeimende Wut, daß man sich hatte mißbrauchen lassen und immer noch mißbrauchen ließ.

... Und ist dieser Krieg eines Tages vorbei,
Das Pferd, es hat teil auch an unserem Siege ...

Wer mochte das noch glauben?
Nach dieser letzten Zeile wartete ich, mit wachsender Spannung, auf irgendeine Reaktion, ein spontanes Auflachen, ein plötzliches Husten ... ‚ aber bisher folgte immer nur dumpfes Schweigen, bevor, wie bisher, der Beifall ausbrach. Dabei hatte ich in meinem Vortrag meine Zweifel an dieser Heilsgewißheit anklingen lassen, unüberhörbar, wie ich meinte. Und es schien mir, als wohne diesen Versen eine immer gefährlichere Sprengkraft inne, die in offenen Defätismus ausarten könne, ausarten müsse, mit nicht absehbaren Folgen. Sollte ich mich so sehr getäuscht haben?
Bei einem Treffen hoher Offiziere des Mittelabschnitts zeigte sich ein berühmter Panzergeneral besonders beeindruckt vom Los der Kriegspferde.
»Sie haben doch Panzer, Herr Feldmarschall!« wagte ich zu sagen. »Ja, leider«‚ sagte er. »Mit Pferden wären wir nicht so tief in Rußland vorgedrungen.«
Hatte ich richtig verstanden?
»Wird bei den Veterinären eigentlich immer noch so schneidig geritten?« fragte er plötzlich. Selbst er wußte also davon. Ich bejahte. »Verrückt«, sagte er und fügte leise hinzu: »Aber es muß ja auch Bordelle geben.«

Und Isenberg?
Ich hatte eine Reihe minimaler Änderungen bei einigen Strophen vorbereitet, vor allem bei Passagen voller Siegerpathos und prahlerischem Überlegenheitsgetue, winzige Retuschen und vermutlich nur für ein aufmerksames Ohr erkennbar, so daß der passionierte Sog erhalten blieb. Doch Isenberg reagierte nicht, wenn ich ihm heimlich zu verstehen gab, daß ich ihn dringend sprechen müsse. Fürchtete er, daß sich daraus erst recht ein Skandal entwickeln könnte? Bei der Bekanntheit, die die Verse mittlerweile erlangt hatten, war das nicht auszuschließen. So blieben die fünfzehn Strophen unverändert.
Ich rezitierte, und die Herren hörten zu, wenn sie nach ihrem Reitvergnügen zur Tafel gebeten wurden. Denn es wurde natürlich weitergeritten. Isenberg hatte erkannt, daß er den Reitstall nicht aufgeben durfte. Jetzt erst recht nicht. Es wurde geritten, gesprungen, mit dem Einfahrwagen herumkutschiert und, wenn genügend Schnee lag, erfreuten sich die Herren unter dem Grollen der nicht sehr weit entfernten Front am Skikjöring: vorneweg ein kleiner Araber, dahinter ein Trakehner und dann ein großer Hannoveraner. Und alle drei in einer Farbe. Und für die Springreiter waren die Parcours in Gribowka und Dubrowka ständig bereit.
Die Lazarettkompanie hatte nun unverhältnismäßig viele Abwürfe zu kurieren: Die Herren waren jetzt meistens betrunken.
In Smolensk, anläßlich einer Inspektion durch einen hochdekorierten General, waren die Herren derart gerührt, daß unser Divisionskommandeur sarkastisch meinte, ein Kommando von drei beherzten Russen würde durchaus genügen, »um wichtige Teile der deutschen Generalität« gefangenzunehmen, »bevor sie auch nur ihre Taschentücher weggesteckt haben«. Der Gast lachte und sagte, er müsse die Herren entschuldigen, denn Heinrich George, der am Abend zuvor mit seinem Ensemble den »Richter von Zalamea« gespielt hätte, habe ihn bei weitem nicht so gerührt wie »Kamerad Pferd«.

Von Zuhause nach Zuhause II
Oktober 1943

Mutter brachte mich zum Bahnhof nach Wülfinghausen. Das waren etwa fünf Kilometer. Wir hatten uns während der letzten Viertelstunde an der Hand gehalten und nicht gesprochen.
Mutter versuchte, tapfer zu sein und nicht zu weinen. Ihre Fingernägel hatten sich in meine Handflächen gegraben. »Es ist nicht so schlimm da draußen«, sagte ich, »die Veterinärkompanie liegt hinter der Front. Ich fühle mich da fast zu Hause.«
»Zu Hause?« sagte Mutter entsetzt.
»Ja, ich weiß, es klingt komisch, aber so geht es vielen: Die Kompanie ist so etwas wie ihr Zuhause.« Und ich dachte: ›Es wäre schlimm, wenn ich zurückkäme und sie wäre nicht mehr da.‹

Wo war die 321. Infanterie-Division?
Wo die 321. Infanterie-Division war, war die Veterinärkompanie. Und wo die Veterinärkompanie war, war ich zu Hause. Seit drei Tagen, seit ich von zu Hause abgefahren war, hatte ich jeden im Zug gefragt, keiner wußte es. Vor zwei Wochen noch lag sie südwestlich von Smolensk. Aber der Zug war gestern von Minsk aus in Richtung Bobruisk abgebogen, irgendwo in der Nähe von Gomel war nun Endstation. Wir waren also viel weiter südlich als bei der Abreise.

Seit zwei Stunden kam und endete Zug auf Zug. Antreten, abzählen, Namen nennen, Dienstgrad, Truppenteil, aufrücken, anschließen, Schnauze halten, Pioniere rechts raus, Artilleristen nach links, abzählen, nachrücken ... Und ständig die Suche nach vertrauten Gesichtern, das Horchen auf bekannte Namen, Truppenteile, Divisionen.
Einige hatten Glück: Neidisch sah man, daß sich zwei gefunden hatten, zwei aus derselben Einheit, und die nun alles versuchten, zusammenzubleiben, sich nicht wieder zu verlieren, in der Hoffnung, den alten Haufen wiederzufinden.
Den alten Haufen wiederfinden! Das war die Sehnsucht aller hier. Den alten Haufen: die vertraute Gemeinschaft, eine Zufallsgemeinschaft von Menschen, die nichts anderes miteinander verband als gemeinsame Monate im Dreck, im Schnee, »in der verdammten Scheiße«, gemeinsamer Hunger, gemeinsame Angst, aber auch diese irrationale Hoffnung, gemeinsam sei die Chance zu überleben größer – eine trügerische Hoffnung, das wußten alle, aber die Vertrautheit der Gesichter, der Stimmen, der Schicksale, soweit man sie kannte, schien die Ängste des einzelnen erträglicher zu machen. Da war nichts mehr von einem gemeinsamen Siegeswillen, und wenn es den jemals gegeben haben sollte, so hatte ich nicht viel davon bemerkt.
Wo war die 321. Infanterie-Division? Wo war die Veterinärkompanie? Plötzlich verstand ich, daß Heinz Brand, der mit mir auf Urlaub fahren sollte, darum gebeten hatte, auf den Urlaub verzichten und bei der Kompanie bleiben zu dürfen.

Gleich nach der Ankunft der Züge hatte man uns nach Waffengattungen zusammengestellt. Aber als ständig neue Züge auf den wenigen Gleisen neben dem Dorfplatz in dem dreckigen Kaff hielten und die Ankommenden eine kilometerlange Schlange bildeten, wurden sie, sowie sie aus den Waggons kletterten, zu Kompanien formiert, Infanteristen neben Artilleristen, Panzerfahrer neben denen aus den Versorgungseinheiten, Rückkehrer neben solchen, die auf dem Weg in den Urlaub abgefangen und sofort wieder zurücktransportiert worden waren, Leichtverletzte, die auf Sanitätsfahrzeuge warteten, neben Versprengten aufgeriebener Einheiten ...
Die Fronten waren auf der ganzen Linie zusammengebrochen, und die Löcher mußten gestopft werden.

Plötzlich fuhr ich zusammen: Da hatte einer »321.« gesagt. Ganz leise. Ganz nah.
»Jemand hier von der 321.?« fragte ich.
»Mensch, Kamerad Pferd!« Ein alter Obergefreiter, wenige Meter entfernt, starrte mich an. Er war gerade angekommen und ordnete sich neben mir ein. »Gott sei Dank, ich bin nicht mehr allein auf der Welt!«
Ja, verrückt, aber es stimmte, ohne den eigenen Haufen fühlte man sich allein auf der Welt, allein zwischen fünf-, sechstausend anderen.
»Siehst du die Sonnenblumen, drüben auf der gegenüberliegenden Seite?« frage er. »Das wär’ doch was?!«
Als ich den kleinen Vorgarten mit den hohen Sonnenblumen entdeckte, gut 200 Meter entfernt, wußte ich sofort, was er meinte. Wenn es uns gelingen würde, in dem allgemeinen Durcheinander von Aufrücken, Neuformieren, neuem Abzählen, Weiterrücken zu diesem Garten zu gelangen, hatten wir vielleicht eine Chance, denn schon begannen Lastwagen vorzufahren und die ersten Kolonnen abzutransportieren. Wohin die Reise ging, war allen klar. Es wurde still, kaum einer sagte etwas. Die gelegentlichen Ansätze von Galgenhumor erstickten immer gleich wieder im Schweigen, das nur vom Geräusch der Wagen, dem Klappern von Waffen, Ausrüstung und Befehlsgeschrei unterbrochen wurde.
Der Obergefreite hatte recht: In dem Gedränge und Geschiebe und leisem Geschimpfe schien es beim Neuformieren nicht allzu schwer, die Plätze zu vertauschen, man stolperte, beschwerte sich, tat, als suche man den alten Nebenmann, und schon hatte man ein paar Meter in Richtung auf die Sonnenblumen zu gewonnen.
»Mensch, daß ich dich getroffen habe! Ich bin von der 3. Kompanie. Bei uns hast du erst vor ein paar Wochen dein Gedicht aufgesagt!«

Nach einer halben Stunde waren wir auf der entgegengesetzten Seite des Dorfplatzes. Die Sonnenblumen waren ganz nah. Als die letzten Lastwagen abfuhren, schrie eine Stimme: »Kleine Pause, die nächsten kommen gleich!« Viele hauten sich hin, andere vertraten sich die Beine. Das war der Moment.
Ich müsse mal austreten, »halt mir den Platz frei!« sagte ich laut und verschwand im Vorgarten mit den Sonnenblumen. Noch während ich durch den lückenhaften Zaun kletterte, knöpfte ich demonstrativ die Hose auf. Zwischen den Blumen wuchs Kohl. Er war hoch ins Kraut geschossen und bildete zur Straße hin eine Art Hecke. Das einstöckige Bauernhaus im Hintergrund schien leer. Während ich mich niederhockte, sah ich mich vor sichtig um: Niemand schien mich zu bemerken. Die Hecke aus Kraut und Blumen hatte mich verschluckt. Dann begann auch schon wieder das Weiterrücken der Kolonnen. Ich wartete ein paar Minuten, dann kroch ich bis zur Hauswand. Die Erde war dort lockerer; ich buddelte mich ein. Mir war klar, was passieren würde, wenn man mich finden sollte. Seltsamerweise konkretisierte sich dieser Gedanke nicht weiter in meinem Bewußtsein. Ich desertierte ja nicht. Ich wollte nur zu meiner Einheit.
Es muß so gegen 6 Uhr abends gewesen sein, als ich durch den Zaun kletterte. Jetzt war es bereits dunkel. Die Geräuschkulisse aus Kommandorufen, Waffenklappern und fernen Lastwagen war dünner geworden. Dann wurde es ganz still. Nur in der Ferne grollte die Front. ›Ich bin wohl eingeschlafen‹, dachte ich. Und schlief weiter.

»Wenn Du nicht tot bist, kannst du jetzt aufstehen!« Die Stimme kam von der Hausseite des Gartens. Da meine Beine taub geworden waren, robbte ich auf den Ellenbogen durch Kohl und Blumen.
In der Tür des verlassenen Hauses hockte der Obergefreite. »Los! Los jetzt!« sagte er. »Hinter der Scheune steht ein Lkw, der Fahrer ist von der Front zurückgekommen und weiß nicht, was er machen soll. Es ist niemand mehr da. Ich habe ihm gesagt, wir seien die letzten. Jetzt ist er froh, daß er Gesellschaft hat. Hier wimmelt es von Partisanen.«
Ich konnte meine Beine immer noch nicht belasten, die Verwundung machte sich bemerkbar. Er riß mich hoch und schleppte mich durch den Flur zum Hinterausgang.
»Schnell ins Führerhaus!« sagte der Fahrer. Er war vielleicht neunzehn. Er zitterte. Gleich mit seinem ersten Transport war er ins Artilleriefeuer geraten. Bevor die Soldaten abspringen konnten, hatte es zwei Tote gegeben. Dem Beifahrer wurden die Beine abgerissen.
»Wohin?« fragte er.
»Richtung Bobruisk!« sagte der Obergefreite.
»Wo ist das?« fragte der Fahrer.
»Im Norden!« sagte der Obergefreite.
»Und wo ist Norden?« fragte der Fahrer.
»Zeige ich dir schon. Und nun fahr endlich!« Der Motor sprang an.
»Bloß keine Scheinwerfer!« sagte der Obergefreite.
»Sind längst kaputt«, sagte der Fahrer.
Wir hatten keine Ahnung, wo die Front verlief. Doch die Einschläge lagen verdammt nah. »Laß uns umkehren!« bat der Fahrer.
»Wohl verrückt?!« schrie der Obergefreite. »Wenn ich krepieren soll, dann bei meinem Haufen!«
Die 321. habe vor vierzehn Tagen nördlich von Bobruisk gelegen, sagte der Obergefreite. Also fuhren wir nach Norden.
»Aber da ist ja die Front!« jammerte der Fahrer.
»Halt endlich die Schnauze!« brüllte der Obergefreite und schlug dem Fahrer brutal ins Gesicht. »Halt ja die Schnauze, du Memme! Ein bißchen früher oder später, was macht das schon?! Und wisch dir das Blut aus der Fresse!« Er warf dem Fahrer einen Putzlappen zu, der vor der Frontscheibe lag.

Gegen 6 Uhr morgens sahen wir entfernt in der Dämmerung einige Kühe. Oder waren es Pferde? Ja, es waren Pferde. Bisher waren wir niemandem begegnet. Wo Pferde sind, müssen Menschen sein.
»Langsam!« schrie der Obergefreite. Und jetzt sahen wir auch einige Männer, sie kamen über die Böschung. Partisanen?
»Raus!« schrie der Obergefreite. »Schnell raus!« Er riß mich mit sich in den Straßengraben und nahm Druckpunkt. Doch bevor die Männer auf der anderen Seite der Straße verschwunden waren, schrie er: »Mensch, das sind welche von uns!«
Wir sprangen auf und winkten. Sie warfen sich hin und duckten sich hinter der Böschung. Dann schienen auch sie überzeugt, daß es nicht die Russen waren, und winkten zurück.
Und jetzt hatte ich auch das Pferd erkannt: Es war der Schecke von Oberst Bauer, ein Wallach, der eine Woche vor meiner Abreise mit einer schweren Kolik bei uns eingeliefert worden war. Es gab nur ein einziges so wunderschön gezeichnetes Tier in der Division. »Willi!« schrie ich.
Jetzt hatte ich auch die anderen erkannt. »Kamerad Pferd! Du?! Das gibt’s doch nicht!«
Irgendwo zwischen Gomel und Bobruisk, mitten im Chaos der wankenden Fronten, fand ich ihn wieder, meinen Haufen, 200 Kilometer von dem Ort entfernt, wo ich ihn verlassen hatte. Die vier waren mit den Pferden auf dem Weg zur Vorratsstaffel im nächsten Dorf. Die Kompanie lag drei Kilometer entfernt. Heute abend sollte sie marschbereit sein. Weiter nach Westen. Ich war wieder »zu Hause«.

»Vorerst bekommen Sie keinen Urlaub mehr«‚ sagte Isenberg. »Ich hatte Ärger mit dem Stab, weil die Herren vergeblich auf Ihr Gedicht gewartet haben.«

 

Ulfilas – Requiem für ein Pferd
Frankreich, 6. Juni 1944

Es ist jetzt fünf nach zehn Uhr morgens.
Das Sperrfeuer liegt hinter uns, vor uns fallen seit einer Viertelstunde kaum noch Bomben; die Flugzeuge drehen ab, zurück zur Insel, nachdem sie die Lastensegler ausgeklinkt haben. Das Feuer der Flak holt viele herunter; die leichten Kisten platzen wie Spielzeugmodelle. In Trauben hängen die Fallschirmjäger in der Luft, ein leichtes Ziel für die Karabiner der Infanterie. Über Bayeux liegt dichter Rauch. Oberleutnant P. läßt halten und hinter einer Hecke Deckung suchen. Der »Bocage Normand«, diesem von unzähligen Hecken durchzogenen Wiesenland, verdanken wir, daß wir bislang keine Verluste haben. Ich binde das Pferd an einen Ast, es zittert seit Stunden und bäumt sich bei jedem nahen Einschlag auf.
Oberleutnant P. sieht mich an: »Sie reiten sofort zurück und holen meine Kartentasche, ich habe sie auf dem Kamin im kleinen Salon vergessen. Beeilen Sie sich! Treffpunkt Caumont-l’Eventé. Viel Glück!«
Soll das ein Scherz sein? Vor einer Viertelstunde hat er gesagt: »Daß wir da rausgekommen sind, aus diesem Inferno, ist ein Wunder. Ich war zwei Jahre in Rußland, mitten in der Scheiße, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt.« Ich sehe P. an. »Na los!« sagt er. »Haben Sie mich nicht verstanden? Reiten Sie!«
Es ist jetzt 10 Uhr 15. Um 7 Uhr 30 kam der Befehl, uns von Arromanche abzusetzen, auf eine rückwärtige Kampflinie, wie es hieß. Vor uns, hinter uns, über uns: der Weltuntergang.
Zuerst in Richtung Bayeux, dann weiter auf St. Lô zu. Wir sind gelaufen, geklettert, gekrochen, einzeln und in kleinen Gruppen, jede Bodenwelle nutzend, die Hecken boten einigen Schutz, aber das Pferd konnte nicht kriechen, und nur wenige Hecken sind hoch genug: Es bot ein markantes Ziel.
»Wollen wir das Pferd nicht zurücklassen?« hatte ich gefragt.
»Sind Sie verrückt? Sie sind hier Meldereiter«, sagte P., »und ohne Pferd kann ich Sie überhaupt nicht brauchen. Sie können nicht mal schießen ohne die verdammte Brille. Haben Sie denn keine Ersatzbrille?«
»Nein, leider auch kaputt.
»Sie Salonsoldat«, sagte P., »warum mußte ausgerechnet ich Sie übernehmen, mitsamt dem Gaul?!« Ich sah auf seine Beinprothese. »Wenn ich reiten könnte«, sagte P., »dann hätte ich Sie längst wieder abgegeben, nach vorn, verstehen Sie, mein Haufen hat ohnehin zu viele Krücken.«
›Stimmt‹, dachte ich, ›Kriegsbeschädigte, kaum wieder einsatzfähig, halbausgebildete Rekruten, alte Männer: Ersatzbataillon, der Name sagt es.‹ Aber was heißt »nach vorn abgegeben«? »Vorn« gibt es erst seit heute morgen. Alle reden seit Jahren von der Invasion, aber keiner hat daran geglaubt. Das hat man heute nacht erlebt! Der beste Geheimdienst der Welt hat nicht gemerkt, daß da drüben Tausende von Soldaten zusammengezogen werden, daß Hunderte von Schiffen losfahren und zig Geschwader von Flugzeugen auf den Einsatz warten! Erst als sie in Sichtnähe vor ihrer Nase auftauchen, wachen sie auf.

Ich binde das Pferd los, führe es um die Hecke in einen Hohlweg, der in die Richtung führt, aus der wir gerade gekommen sind, zurück ins »Inferno«. Plötzlich ist der Himmel wieder voller Flugzeuge. Warum schmeißen die ihre Bomben im Hinterland runter? Die Front ist doch vorn, da wo ich hinreite!? – Eine Detonation! Der Gaul und ich fliegen in die Hecke. Das Pferd schreit! Ich habe nicht gewußt, daß Pferde schreien können, jetzt weiß ich es – es dringt in die Seele. Ich habe die Trense nicht losgelassen, ich klopfe den Hals des Tieres und rede ihm begütigend zu ... Weiter durch den Hohlweg bis zur nächsten Biegung, das sind etwa 200 Meter ... Ein neuer Einschlag! Das Pferd bricht aus, wir landen wieder in den Hecken. So kommen wir nie nach vorn. Ulfilas blutet an der Kruppe: oberflächlich, nicht gefährlich. Ja, es ist Ulfilas, der braune Wallach, Hannoveraner, neun Jahre alt, schöne schmale Blesse bis zum Maul, hinten beidseitig gestiefelt, rechtes Auge erblindet, ich weiß nicht, seit wann und wodurch. Ein frommes, folgsames Tier, aber so schrecklich hoch! Zu hoch für das Heckengelände. Ich ducke mich tief auf seinen Hals. Noch ist der Weg frei, noch etwa hundert Meter bis zur Biegung. Aber jetzt kommen sie: Die Wagen mit Verwundeten und Toten rasen an mir vorbei, frische Truppen überholen mich. Schwerer Artilleriebeschuß setzt ein. Chaos! Ein Kradmelder schreit: »Dreh den Gaul um, du Held, das ist die falsche Richtung!«
Der Luftdruck einer Explosion schleudert mich vom Pferd, Ulfilas ist weg! Ich krieche durch eine Hecke: Da steht er und wartet auf mich, seine Flanken gehen wie ein Blasebalg, er kommt auf mich zu und stößt mich mit dem Maul. Ich falle ihm um den Hals ... Plötzlich sind wir auf der Straße nach Caen: Lastwagen, Geschütze, Panzer, Sankas; Tieffliegerangriff, Bomben fallen: Das Pferd findet auf dem Pflaster keinen Halt, bei jeder Explosion rutscht es aus, schreit, rast davon. Aber immer wieder kommt es zu mir zurück oder wartet auf mich. Ja, mein Pferd: Wir sind aufeinander angewiesen, wir sind eine Notgemeinschaft, eine Überlebensgemeinschaft! Bloß weg von der Straße, zurück in die Hohlwege! Die sind total verstopft. Durch! ... Ich habe die Richtung verloren, aber da vorn muß das Meer sein, von da kommen die Sanitätswagen, da vorn ist die Kartentasche!
Plötzlich, hinter einem Erdwall: Granatwerferbeschuß. Sind das schon die ...? Mit Granatwerfern schießt man nur auf kurze Entfernung, meist über ein Hindernis hinweg. Man kann die ballistische Kurve der Granate in der Luft verfolgen, sieht sie langsamer werden, im Scheitelpunkt umkippen ... Wenn man dann mit geschlossenen Augen bis acht zählt und noch am Leben ist, hat es einen anderen getroffen, und man kann aufatmen. Ich zähle bis sechs – dann spüre ich einen harten Schlag. Es wird dunkel. Nach einer Weile – Sekunden? Minuten? – stößt mich etwas an, etwas Warmes, Feuchtes in meinem Gesicht. Die Explosion hatte mich verschüttet, Ulfilas hat mich gefunden. Braves Pferd! Mein Pferd! Mein unschuldiger, einäugiger Kamerad! ...
Da sind sie! Sie sind da! Sie kommen direkt auf mich zu, zehn Meter vielleicht noch: amerikanische Uniformen, Maschinenpistolen ... Ich starre sie an, sie starren mich an ... irritiertes Kopfschütteln ... Dann sind sie um die nächste Biegung verschwunden.

Als Roß und Reiter endlich »vorn« ankamen – auf meiner Armbanduhr war es 15 Uhr 30 –, hatte sich das »Unbegreifliche« mehrfach wiederholt. Aber als ich Ulfilas ansah, begriff ich plötzlich: wir waren beide völlig verdreckt, unkenntlich für Freund und Feind. Das Bild, das wir boten, war nicht so schnell einzuordnen, Entschlüsse nicht so schnell zu fassen. Und was wären das für Entschlüsse gewesen? Auf eine Vision schießt man nicht so schnell.

Das kleine Château, das uns bis heute früh als Quartier gedient hatte, war kaum beschädigt. Einsam stand es zwischen Trümmern. Auf dem Kaminsims lag die Kartentasche mit den präzisen Plänen der rückwärtigen Auffangstellungen des Feldersatzbataillons.
Vom Château hatte man einen direkten Blick auf den Hafen von Arromanche und die Landungsoperationen der Alliierten. Ich sah die gigantische Maschinerie der Invasionsarmeen in voller Aktion. Aber ich begriff sie nicht
Ich nahm Ulfilas am Zügel, und wir machten uns auf den Rückweg. Diesen Weg zurück ins Hinterland kann ich nicht beschreiben. Ich habe ihn nicht mit Bewußtsein wahrgenommen. Ich hatte die Kartentasche gefunden, mitten im Schlund der Hölle – und ich wollte sie zurückbringen.
Später habe ich mich immer wieder gefragt, warum hast du nicht hinter einer Hecke gewartet, bist nach angemessener Wartezeit zu deiner Einheit zurückgeritten und hast erklärt, vorn stehe nichts mehr, kein einziges Haus, was nicht einmal ganz falsch gewesen wäre. Aber ich habe keine Antwort gefunden.
Was ich auf dem Rückweg sah, löste in mir keine Empfindungen aus. Ich empfand nichts beim Anblick der Opfer des »längsten Tages«, die da auf den Wegen lagen, in den Bäumen und Hecken hingen, auf den Sankas schrien. Apokalyptische Bilder – aber ich empfand nichts. Ich weiß nur, daß ich unentwegt dachte: ›Ich muß die Tasche zurückbringen, ich muß das Pferd zurückbringen.‹

Gegen Mitternacht war ich in Caumont-l’Eventé. Unsere Einheit lag in einer »Ferme« am Ortsausgang. Ulfilas war von mehreren Streifschüssen getroffen worden, der Widerrist war aufgerissen, die Kruppe blutete, er lahmte stark. Mich hatte es an der Stirn erwischt, auch am linkem Oberarm, aber es waren Fleischwunden, keine Affäre.
Als ich Oberleutnant P. die Kartentasche übergab, sagte er: »Ach, Sie sind tatsächlich zurückgekommen. Ich hatte sie schon als Deserteur gemeldet. So kann man sich täuschen. Wollen mal sehen, vielleicht ist jetzt das EK drin.«

Oswald Döpke, 1944, mit Pferd

 

Mit freundlicher Genehmigung des Zeitgut-Verlages
Bilder: © Zeitgut-Archiv

 

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