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           Markgrafenheide
          und Warnemünde bei Rostock - Gedser - Kopenhagen; Sommer 1960, Sommer
          1990
            
           Edith
          Rabe 
          Wir konnten uns nur zuwinken
          
           Ich
          befinde mich an Deck des Motorschiffes „Seebad Ahlbeck", das
          Kurs auf die dänische Insel Falster nimmt. Langsam entschwindet
          meinen Blicken der Hafen von Warnemünde, die Silhouette der Stadt.
          Bald schon ist ringsherum nur noch Wasser. Daß das Land aber nicht
          fern ist, zeigen die Möwen an, die unser Schiff immer noch umkreisen.
           Ich
          laufe zum Bug des Schiffes und spähe gespannt in die Ferne. Ist Dänemark
          schon in Sicht? Angestrengt suchen meine Augen das Meer ab. Endlich
          taucht am Horizont, zuerst nur schemenhaft, die Insel Falster auf.
          Langsam nähert sich das Schiff dem dänischen Hafen Gedser, meinem
          Reiseziel. Vor drei Wochen bin ich mit meiner Seminargruppe des
          Lehrerbildungsinstitutes Leipzig ins GST-Zeltlager*) nach
          Markgrafenheide an der Ostsee gekommen. Ich bin zum ersten
            
          
          
 GST-Zeltlager
          in Markgrafenheide bei Warnemünde. In der Mitte, mit Brille, das bin
          ich.
          
           Mal am
          Meer. In jeder freien Minute gehe ich zum Strand, wenn es warm ist, im
          Bikini, um mich den Wellen entgegenzuwerfen, oder an kühlen Tagen im
          Seemannspullover, um ferne Schiffe zu beobachten. Als es hieß, daß
          eine Fahrt mit einem Motorschiff bevorstehe, habe ich mich riesig
          gefreut. Doch jetzt, da wir der dänischen Küste entgegenschippern,
          mischt sich in den Jubel Wehmut, denn in Gedser dürfen wir nicht von
          Bord gehen. DDR-Bürgern ist es verwehrt, den Fuß in ein westliches
          Land zu setzen. Wer Geld und etwas Glück hat, kann im Reisebüro
          einen Urlaubsplatz in einem osteuropäischen Staat ergattern. Ich habe
          beides nicht. Außerdem will ich nicht nur in ein „erlaubtes
          Land" reisen. Mir haben es jene Länder angetan, die für uns
          unerreichbar sind. Daher habe ich begonnen, Ansichtskarten zu sammeln,
          die uns unsere westdeutschen Verwandten von überall her zuschicken.
          Inzwischen besitze ich eine stattliche Anzahl. Im Zeltlager kam mir
          die Idee, wie ich die Schiffsreise nutzen kann, um meine Sammlung zu
          vergrößern. In eine leere Streichholzschachtel habe ich einen
          kleinen, mehrfach zusammengefalteten Zettel gelegt mit meiner
          Anschrift und der Bitte an den Finder, mir doch eine Karte aus Dänemark
          zu schicken.
           Voller
          Erwartung blicke ich jetzt dem Hafen Gedser entgegen und halte dabei
          meine Schachtel, die ich mit einem kleinen Stein beschwert habe,
          krampfhaft fest. Am Anlegeplatz stehen viele Menschen. Wie auf
          Verabredung winken sich die Leute zu. Als das Schiff endlich fest
          verankert im Hafenbecken liegt, versuche ich, Kontakt zu den Menschen
          aufzunehmen. Ich gebe zu verstehen, daß ich Ansichtskarten sammle und
          werfe meine Schachtel in die Menge. Ich habe Glück, durch den Stein
          gewichtig geworden, fällt sie nicht ins Hafenbecken, sondern fliegt
          hinüber und landet bei einem jungen Mann, der sie
            
          
 Im
          Jahre 1960 konnten wir DDR-Bürger zwar noch mit dem Schiff nach
          Gedser fahren, von Bord gehen durften wir jedoch nicht.
          
           geschickt
          auffängt. Am Ufer und auf dem Schiff entsteht jetzt Bewegung, andere
          wiederholen, was ich vorgemacht habe. Ich bin nicht die einzige, die
          auf diese Weise Verbindung zu den Menschen am Kai sucht. Doch meine
          Stimmung, bis jetzt von Heiterkeit geprägt, wird zunehmend bedrückter,
          je länger ich den Promenierenden vom Schiff aus zusehe. Viele
          deutsche Touristen sind darunter. Wir sprechen dieselbe Sprache und dürfen
          trotzdem nicht das gleiche tun. Sie gehen an Land spazieren, doch wir
          müssen an Bord bleiben. Bevor ich noch lange darüber nachdenken
          kann, legt unser Schiff schon wieder ab. Ein letztes Winken und
          Zurufen, dann entschwindet die dänische Küste ganz langsam meinen
          Blicken.
           Wieder
          zu Hause, wartet tatsächlich eine Ansichtskarte aus Kopenhagen auf
          mich. Die erste farbige, große Karte für meine Sammlung! Immer
          wieder betrachte ich sie. Auf der Rückseite steht geschrieben:
           Viele
          Grüße aus Dänemark sendet Ihnen Theo Weber. Ich konnte Ihnen leider
          an der Kaimauer nur zuwinken ...
          
           Einmal
          in diese faszinierende Stadt reisen, das ist mein größter Wunsch.
          Ein paar Tage später treffen noch zwei Karten aus Gedser sowie zwei
          Fotos ein, die der freundliche Absender von unserem Schiff gemacht
          hat.
           Im
          Sommer 1990, fast auf den Tag genau dreißig Jahre später, erfüllt
          sich mein Traum. Nach der Währungsunion buche ich bei einem
          Busunternehmen für 99 DM eine Fahrt nach Kopenhagen. Gegen Abend
          steige ich in Vetschau in den Bus. Von Warnemünde geht es mit der Fähre
          bis Gedser und von dort weiter mit dem Bus bis Kopenhagen.
           Als ich
          dann auf dem Rathausplatz von Kopenhagen stehe, den ich bisher nur von
          der alten Ansichtskarte her kenne, kann ich mein Glück kaum fassen.
          Eine Stadtrundfahrt führt mich anschließend zu weiteren Sehenswürdigkeiten.
          Am späten Nachmittag sitze ich erschöpft wieder im Bus, lasse erst
          Kopenhagen, dann Gedser hinter mir. In der Abendsonne geht es mit der
          Fähre zurück nach Warnemünde. Am nächsten Morgen, gegen vier Uhr,
          komme ich zu Hause an, todmüde, aber glücklich.
           *)
          Gesellschaft für Sport und Technik: 1952 gegründete
          Massenorganisation der DDR zur vormilitärischen und wehrsportlichen
          Erziehung und Ausbildung.
           Aus:
          „Von hier nach drüben", 
          Reihe ZEITGUT, Band 11.
          
           
          
          
           
           
        
          Oldenburg -Neapel, Italien;
          1955/56
           
          Ingeborg
          Werneken 
          O mia bella Napoli 
          Als
          nach dem großen Kriege zehn Jahre vergangen waren, hatten die
          Deutschen wieder ein Dach über dem Kopf und sich so richtig satt
          gegessen, so daß sie begannen, nach neuen Genüssen Ausschau zu
          halten. Schicke Kleidchen wippten über Petticoats und das
          „Pferdeschwänzchen", die neue Haartracht, wehte im Wind, wenn
          die Teenager-Girls sich fest an ihre Boys klemmend mit Tempo 60 auf
          ihren Motorrollern durch die Straßen brausten. Etwas ältere
          Semester, wie wir, gesetzt und mit Familie, dachten an ein Auto, ein
          kleines. Eines Tages stand tatsächlich ein „Käfer", kaum
          100.000 Kilometer auf dem Buckel, vor unserer Haustür. 
          Dann
          brach das Reisefieber aus. Aus den neuen Radios erklang „O mia bella
          Napoli" und „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer
          versinkt" und die Germanen starrten wie 2000 Jahre vordem ihre
          Vorfahren, gebannt auf Bella Italia, denn „Kennst du das Land
          ..." hatte schon Goethe gefragt. Die erste Blechlawine setzte
          sich in Gang über die damals noch nicht untertunnelten Berge, rastlos
          über Schotterstraßen, vorbei an ungeschützten Steilhängen über
          die Alpen, wie weiland Hannibal mit seinen Elefanten. 
          In
          Italien brach die große Freude aus. Campingplätze wurden angelegt,
          die ersten Bettenburgen, drei bis vier Stockwerke hoch, reckten sich
          gen Himmel. Und wenn abends beim Mandolinenklang die Nachbarn aus dem
          kalten Norden es gar so schlimm trieben in trunkener und ungewohnter
          Weinseligkeit, sprach man hinter vorgehaltener Hand schon mal vom „Furor(e)
          Teutonicus", denn seit 2000 Jahren hatten die zarten und
          feinsinnigen Südländer den Sturm, der damals über sie
          hinwegbrauste, nicht vergessen. 
            
          Meine
          beiden Töchter vor einem
          Kiosk in Italien mit einem Mickymaus-Heft auf Italienisch. 
  
          Um
          mehr und immer mehr dieser blonden Riesen ins Land zu locken -und
          lange bevor der Teutonengrill an der Adria Wirklichkeit wurde - gab
          man Benzingutscheine aus, die den kostbaren Treibstoff ins gelobte
          Land verbilligten, während die Eingeborenen zähneknirschend einen
          hohen Preis zahlen mußten. Und - man kennt das ja bei diesen Südländern
          - sie waren ohne Maß und Ziel und verschwendeten die Marken mit
          vollen Händen. Daraus entwickelte sich eine Art „Geschäft",
          von Nutzen für beide Seiten: Man brauchte bei der Reiseplanung nur
          „vier Wochen Sizilien" anzumelden, um verbilligte Bons für
          3000 Kilometer zu erhalten. Tatsächlich fuhr man nur bis zum Gardasee
          und verkaufte die überflüssigen 2000-Kilometer-Marken mit Aufpreis
          an die schon wartenden Italiener. So mancher deutsche Urlauber
          finanzierte auf diese Art einen Teil seines Urlaubs. O bella Italia! 
          Wir
          gehörten selbstverständlich nicht zu jener Sorte von Zeitgenossen.
          Oh nein, wir fuhren bis Neapel und hatten, na sagen wir mal, Marken
          bis Salerno. Reine Vorsorge, versteht sich. Man benötigte ja auch
          Benzin zum Hin- und Herfahren, denn ich mochte keine Stadt verlassen,
          ehe ich nicht sämtliche Kirchen und Museen von innen bestaunt, jeden
          Marktplatz besichtigt und an jeder Ausgrabungsstätte heimlich
          gebuddelt hatte. Zum Leidwesen unserer beiden Töchterchen, deren
          kleine Beinchen manchmal nicht mehr mitlaufen wollten. 
          So
          zogen wir träumenden Herzens, den alten VW bis übers Dach beladen
          mit Zelt, Gaskocher, Bettwäsche und zwei kleinen Blondschöpfen, auch
          im Jahr 1956 durch das gelobte Land voller Sonne, Wärme, Wein und
          Papagalli immer weiter nach Süden. Wir kamen nach Herculaneum, und
          besichtigten dann die Ausgrabungen in Pompej. In das berühmte
          Freudenhaus mit den obszönen _ heute nennt man das erotisch _
          Wandmalereien durften nur die Männer eintreten, ich mußte vor der Tür
          bleiben, die Kinder natürlich auch. Alles ging gesittet zu, niemand wäre
          im Badeanzug in den Speisesaal oder über die Straße gegangen, und für
          Besichtigungen hatte man seine Sonntagskleidung mit. 
            
          „Neapel
          sehen und dann sterben" - heißt es. Ein besonderes Andenken
          sollte mich zehn Jahre lang an unseren Urlaub 1956 erinnern. 
          In Napoli, wo der Vesuv gerade „streikte" und die berühmte
          Rauchfahne nicht über der Bucht stand, wollte ich wenigstens das
          vielbesungene „Santa Lucia" sehen, das Hafenviertel. Ich ahnte
          ja nicht, was uns dort erwartete: Hütten aus Blech und Pappe,
          bettelnde Kinder, Steinwürfe und Schwarzhändler - späte
          Kriegsfolgen. 
          Zwei
          Uhren wollte man uns verkaufen, eine für Papa und eine für Mama, natürlich
          aus echtem Gold. Diese Spangenuhr sah wirklich picobello aus, aber 50
          Mark waren damals viel Geld. Und überhaupt hatten wir ja unsere
          Prinzipien: wir kaufen doch keine keine illegale Ware! 
          Doch
          als wir mit Müh' und Not und vielfachem „No, no, no!" endlich
          wieder im Wagen saßen, steckten diese Unermüdlichen, Aufdringlichen
          ihre schwarzgelockten Schöpfe ins geöffnete Autofenster und flüsterten
          „Benzinbon". 
          Was
          soll ich sagen? Mindestens zehn Jahre hatte ich Freude an meiner
          „echt goldenen" Spangenuhr, wenn sie auch von Jahr zu Jahr
          silberner wurde. Aber was soll's, Gold vergeht, Erinnerung bleibt. O
          mia bella Napoli! 
           
           
          Aus:
          „Deutschland - Wunderland", 
          Reihe ZEITGUT, Band 18. 
           
        
          Schmolz*)
          bei Breslau, Schlesien; 1939 
          
          Hans-Heinrich
          Vogt 
          Frust
          und Baldrian
           
          Mit
          „Mundus vult decipi" brachte uns ein wackerer Lateinlehrer bei,
          daß die Welt betrogen werden will. Dazu lieferte mein Vater die
          Dokumentation - in bester Absicht freilich, und ich denke noch heute
          dankbar daran, wie sich mein Vater mühte, uns zwei aufgeweckte Rangen
          im langweiligen Sommerurlaub zu beschäftigen. Meine Schwester und ich
          hatten das Gebirgsdorf im schlesischen Bergland schon von vorn bis
          hinten erkundet, alle Pferde gefüttert, alle Hunde geneckt, jeden
          Bach durchwatet. Was sollten wir noch tun? 
          Mein
          Vater hatte eine Idee: „Wie wäre es, wenn ihr ein bißchen durch
          Wald und Feld streifen und Baldrian suchen würdet? Baldrianwurzeln
          braucht man, um daraus ein Beruhigungsmittel herzustellen, doch es
          gibt nicht genug Leute, die die Wurzeln ausgraben und zum Apotheker
          tragen. Ich habe gerade den hiesigen Apotheker gesprochen; er sucht
          dringend Baldrianwurzeln. Wollt ihr euch nicht ein paar Pfennige
          verdienen und auf die Suche gehen? Es gibt eine Mark fürs Kilogramm
          Wurzeln!" 
          Meine
          Schwester und ich schauten uns an. Wenn die Langeweile noch weiter um
          sich griff, würden wir annehmen. Das wußten wir beide. 
          Am
          nächsten Tag war es soweit. Seufzend zogen wir mit Hacke und Schaufel
          aus und fahndeten nach Baldrianwurzeln. Es war gar nicht so einfach,
          sie zu finden, und noch viel aufwendiger, wägbare Mengen davon zu
          erwirtschaften. Nun, seit jener Zeit weiß ich, wie langsam ein
          Naturprodukt zu einem Kilogramm heranwächst, weiß auch zu schätzen,
          welche Arbeit Baumwollpflücker und Teezupfer auf sich nehmen. Der
          Triumph kam am Tag, als wir den Apotheker das Säckchen mit den
          sauberen Baldrianwurzeln auf den Tisch legen konnten. 
          „Tadellose
          Ware, wirklich. Und ich brauche sie dringend." 
          Die
          Waage zeigte fast akkurat ein Kilogramm. „Ich bin nicht
          kleinlich", meinte der Mann im weißen Kittel, „es fehlen ein
          paar Gramm, aber sei's drum. Hier habt ihr eine Mark, die euch gehört." 
          Wir
          zogen ab in dem Bewußtsein, dem Apotheker einen Dienst erwiesen zu
          haben, weil er Baldrian brauchte. Da war aber auch das erhebende Gefühl,
          mit ehrlicher Arbeit zu Geld gekommen zu sein. 
          Ehrlich
          war's, aber nicht von Vaters Seite. Viel, viel später hat er meiner
          Schwester und mir gestanden, daß die Sorge um die Behebung der
          Langeweile, die uns plagte, ihn zu einer List greifen ließ. Er war
          mit dem Apotheker des Urlaubsortes ins Gespräch gekommen: Die Mark,
          die uns der Heilkräuterexperte in die Hand drückte, hatte er zuvor
          augenzwinkernd von unserem Vater eingesteckt! 
          So
          war allen geholfen: Wir waren beschäftigt, verdienten Geld, sonnten
          uns im Glorienschein einer guten Tat, unsere Eltern ersparten sich
          quengelnde Kinder, und dem Apotheker mag es Spaß gemacht haben, das
          Spielchen zu inszenieren. Daß unsere Baldrianwurzeln alsbald achtlos
          im Müll landeten, hat uns freilich noch viel später sehr gewurmt und
          blieb als Lehre präsent: Die Welt will betrogen sein - und sei es
          auch nur im Interesse eines harmonischen Urlaubs. 
           
          *) heute Smolec in Polen 
           
          Aus: „Heil
          Hitler, Herr Lehrer!", 
          Reihe ZEITGUT, Band 13. 
           
        
          Berlin
          – Teupitz, Brandenburg 
          Juli 1923
           Liselotte
          Haak 
          Ein unvergeßlicher Sommer 
          In den
          Zwanziger Jahren sagte man nicht wie heute „wir fahren in Urlaub“
          oder „wir machen Ferien“, nein, die wohlbetuchten Leute fuhren in
          die „Sommerfrische“, reisten zur Erholung in den Harz, in die
          Heide, an den Nord- oder Ostseestrand. Auslandsurlaube kannten wir
          damals noch nicht. So wollte auch mein Stiefvater, der Großkaufmann
          Max Hübner, mit seiner Frau und zwei Kindern in die Mark Brandenburg
          an den Teupitzer See fahren. Die Pension, südlich von Berlin gelegen,
          hatte ihm unser Kaufmann Zickelbein empfohlen, der dort am Wochenende
          angelte. Zur Entlastung der Hausfrau heuerte man ein Kindermädchen
          an. Trude Nentwich, 16 Jahre alt, war uns wohlbekannt, weil sie wie
          wir in der Cotheniusstraße 1 im Stadtbezirk Prenzlauer Berg wohnte.
          Sie hatte ein Gesicht wie eine bösartige Bulldogge, mein Bruder und
          ich mochten sie überhaupt nicht leiden. 
           
          Mitte Juli 1924 war es soweit. Fein angezogen stand ich am Fenster und
          hielt nach der Taxe Ausschau, die uns zum Anhalter Bahnhof bringen
          sollte. Meine Eltern hatten mir bei Wertheim neue Kleidung gekauft.
          Ich trug ein zartrosa Voile-Kleid, ein hellgraues Wollmäntelchen mit
          blauen Patten an Ärmeln und Taschen und dazu ein rosa Strohhütchen
          mit Rosenknospen, das abscheulich drückte. 
          An die Eisenbahnfahrt nach Teupitz kann ich mich nicht mehr erinnern,
          wohl aber an unsere Ankunft dort. Am Eingang eines weißen
          Lattenzaunes empfing uns die Pensionswirtin, Frau Kammholz, eine
          hagere Frau mit braunem Indianergesicht. Zu meiner großen Freude
          wurde sie von einem silbergrauen Spitz begleitet. Der bellte zwar zunächst,
          aber das schreckte mich nicht. Schon damals liebte ich Hunde über
          alles. Der kleine Junge, der neben ihr stand, interessierte mich
          weniger, obwohl sie zu ihm sagte: „Siehst du, Klausi, nun kriegst du
          endlich Spielgefährten.“ 
           
          Er war fast fünf Jahre alt, also beinahe so alt wie ich. 
          Wir wurden in unsere Sommerwohnung geführt, die aus zwei Zimmern und
          einer Küche bestand. Eine Ferienwohnung war damals etwas sehr
          Ausgefallenes und entsprechend teuer. Mein Stiefvater wollte
          vermutlich nicht gern auf die exzellenten Kochkünste seiner Frau
          verzichten. Gleich am zweiten Tag hatte er für uns drei Kinder einen
          großen Berg Spielsand anfahren lassen. Klausi bekam genau wie wir das
          passende Sandspielzeug dazu, ebenso Bälle, Holztiere und Schiffchen.
          Am liebsten aber spielte ich mit den Hunden, außer Hauderle gab es
          noch einen lieben Jagdhund. Er hieß Hektor und folgte mir auf Schritt
          und Tritt. Er durfte sogar mit in unsere Höhle. Das war ein
          kreisrundes Gartenfleckchen, von dichtem Buschwerk umgeben. Durch den
          Eingang mußte man auf allen Vieren kriechen. Hier waren wir den
          Blicken der Erwachsenen entzogen. Klausi hatte aus der Küche allerlei
          Geräte entwendet, alte Kannen, Tassen ohne Henkel, Siebe und Schöpflöffel,
          mit denen wir Familie spielten. Wir konnten uns ganz gut alleine beschäftigen. 
           
          Von unserer „Perle“ Trude hatten wir nichts, denn sie verschwand
          schon nach ein paar Tagen in Richtung Heimat, weil es ihr hier nicht
          gefiel. Aber auf dem nachfolgenden Foto ist sie noch zu sehen. Sie
          steht ganz links außen neben dem Dienstmädchen der Pension. Der große
          Herr ist ein Kunstmaler, begleitet von seiner Mutter und seiner Tante.
          Dann folgen die beiden Lehrerinnen, die eine, Frau Lejeune, im
          Liegestuhl sitzend. Das junge Mädchen rechts außen ist die hübsche
          Haustochter Annemarie, auf die meine Mutter überaus eifersüchtig
          wurde. In der zweiten Reihe stehe ich mit Haarschleife neben meiner
          Mutter, zwei Freundinnen der Frau Kammholz und einer Hausdame. Ganz
          vorn sitzen mein Stiefvater mit meinem Bruder Erich, der Spitz „Hauderle“
          und die Wirtin mit Klausi. Sie war eine Kriegerwitwe. 
            
          Zur
          Sommerfrische fuhren wir 1923 in die Mark Brandenburg und wohnten in
          einer Pension am Teupitzer See, südlich von Berlin. Für mich als Großstadtkind
          war es aufregend und abenteuerlich, von so viel Natur umgeben zu sein.
          Es waren die schönsten Ferien meiner Kindheit – wenn auch mit einem
          bitteren Ende. 
           
          Wir lernten die Pensionsgäste beim Kaffeetrinken im Garten und an der
          langen Abendtafel kennen. Besonders die beiden Lehrerinnen
          unterhielten sich oft mit mir. Die eine wunderte sich, daß ich noch
          keine Sonnenblumen kannte und versprach mir, eine
          Sonnenblumen-Ansichtskarte nach Berlin zu schicken. Ich habe
          vergeblich darauf gewartet. 
           
          Wir genossen die wundervollen Wochen. Tag für Tag strahlte die Sonne
          vom Himmel herab, Regenwetter gab es nicht. Häufig fuhren alle Gäste
          gemeinsam mit einem Pferdewagen zur Badeanstalt. Es machte mir
          riesigen Spaß, neben dem Kutscher vorn auf dem Bock zu sitzen und die
          Pferdepopos zu beobachten. Und dann das Baden! Die Damen trugen alle
          schwarze Badeanzüge mit Röckchen, die Herren Badehosen bis zum Knie.
          Meine Mama hatte eine ballonförmige Bademütze aus Gummi auf. Das
          Wasser war herrlich warm, und ich machte meine ersten Schwimmversuche. 
           
          Einmal nahmen mich mein Stiefvater und Herr Zickelbein zum Angeln mit.
          Ich sollte die Fische von den Haken lösen und in einen Wassereimer
          werfen. Aber das empfand ich als schreckliche Tierquälerei und
          weigerte mich. Immerhin konnten wir vom Kahn aus eine Reiherkolonie am
          andern Ufer beobachten. 
           
          An eine Nacht erinnere ich mich mit Grauen. Meine Eltern waren abends
          mit Bekannten zum Segeln gefahren und hatten uns Kinder
          alleingelassen. Wir durften ausnahmsweise in den Ehebetten schlafen.
          Erich und ich wurden mitten in der Nacht von einem schrecklichen
          Gewittersturm geweckt. Der Donner krachte, und der Regen klatschte
          heftig an die Fensterscheiben. Wir weinten entsetzlich, aber niemand hörte
          uns. Ich wußte schon, wie schnell Segelboote umschlagen können und wähnte
          meine Eltern bereits ertrunken im See liegen. Im Morgengrauen kamen
          sie Gott sei Dank wohlbehalten nach Teupitz zurück. Sie hatten noch
          vor dem Sturm das Ufer erreicht und in einem fremden Bootshaus übernachtet. 
           
          Wenn ich Langeweile hatte, ging ich in den Keller. In dem hellen,
          langen Raum hüpften Hunderte von winzigen Fröschlein herum. Sie
          waren nicht größer als mein kleiner Finger. Ich steckte sie in eine
          Zigarrenkiste und setzte sie im Garten wieder aus. Der Keller hatte
          eine wundervolle Akustik, und ich sang darin aus voller Kehle. Eine
          der Lehrerinnen sagte daraufhin zu meiner Mutter: „Ihre Tochter hat
          eine gute Stimme, lassen Sie die mal später ausbilden.“ 
           
          Mama fand das albern und erzählte es mir lachend. Ihre gute Laune und
          Urlaubsfröhlichkeit verwandelte sich leider bald in Eifersucht, denn
          mein Stiefvater, den sie „Luftikus“ nannte, hatte mit der hübschen
          Haustochter ein Techtelmechtel angefangen. Um seine Frau wieder zu
          versöhnen, arrangierte er eine Italienische Nacht – ein rauschendes
          Fest mit Musik, Tanz und Phantasiekostümen. Im Garten wurde ein
          Tanzboden gezimmert. Lichterketten aus vielen kleinen Glühlämpchen,
          unterbrochen von Lampions und Luftballons, boten schon bei Tageslicht
          ein buntes Bild. Auch ein kaltes Büffet wurde aufgebaut. 
           
          Wir Kinder durften aufbleiben und alles miterleben. Ich beobachtete,
          wie sich meine Mama als Maharadscha verkleidete. Sie drapierte nicht
          nur Laken als Gewand um ihren Körper, sondern zauberte auch einen
          tollen Turban mit einer funkelnden Brosche aus falschen Steinen. Dazu
          schminkte sie sich ganz braun. Zu meinem Stiefvater paßte vorzüglich
          der Pirat mit Augenklappe und rotem Halstuch. Mich hatte Mama in den
          hellblauen Anzug meines kleinen Bruders gezwängt. Das gefiel mir gar
          nicht, weil er viel zu eng war. Klein-Erich bekam echte Lederhosen und
          ein Seppelhütchen mit Feder, um die ich ihn beneidete. Klausi fühlte
          sich im Mädchenkleid von mir und großer Haarschleife auch nicht sehr
          wohl. 
           
          Meine Mutter war erleichtert, als ihre Nebenbuhlerin ein braves Rotkäppchen
          im Dirndlkleid darstellte. Erich und ich konnten die Dunkelheit kaum
          erwarten. Mein Stiefvater hatte eine sechsköpfige Tanzkapelle
          engagiert. Nach den leiblichen Genüssen wurde eifrig das Tanzbein
          geschwungen. Wir Kinder sorgten dafür, daß sich das kalte Büffet
          schnell leerte. Natürlich teilte ich meine Häppchen mit dem
          geliebten Hektor! 
           
          Bei Erdbeerbowle und Sekt gerieten alle Gäste in heiterste Stimmung.
          Wir Kinder wuselten zwischen tanzenden Seejungfrauen,
          Schornsteinfegern und Matrosen herum. Es war ein unvergeßliches
          Erlebnis, das von einem Feuerwerk gekrönt wurde. Die Pensionsgäste
          schwärmten noch lange davon und bedankten sich bei Max Hübner. 
          Die Ferien waren fast zu Ende, als meine Großeltern zu Besuch kamen.
          Meine Mama bekam gleich Krach mit ihrer Mutter. Die hatte auf dem Küchentisch
          zwischen herumliegenden Makkaroni, Zwiebeln und Tomaten ein paar
          verstreute Zehnmarkscheine erblickt. Sie schimpfte: „Wie kann man
          nur so bodenlos liederlich sein! Wenn ihr weiter so mit dem Geld
          herumschmeißt, wird es euch später mal fehlen!“ 
           
          Darüber konnte meine Mama nur lachen, nicht ahnend, daß sich die
          Prophezeiung bald bewahrheiten sollte. 
           
          Für mich endeten die Sommerferien einen Tag später mit einem Eklat.
          Mein Stiefvater hatte am frühen Abend fröhlich eins getrunken und
          wurde übermütig. Im Piratenkostüm, auf allen Vieren kriechend und
          mit einem Messer im Mund, hatte er die ganze Familie in eine Ecke gedrängt,
          nachdem er geschrien hatte: „Ich bring’ euch alle um!“ 
          Wir Kinder wußten nicht, ob es Spaß oder Ernst war und hatten Angst.
          Mein treuer Begleiter Hektor rettete die Situation, indem er den
          Betrunkenen bellend und zähnefletschend verjagte. 
          Meine Großmutter war entsetzt und schrie: „Das Kind kommt jetzt zu
          uns!“ 
           
          Sie packte sofort meine Sachen für die Abreise. Da mein Großvater
          auch mein Vormund war, konnte er meinen Aufenthaltsort bestimmen. Ich
          widersetzte mich heulend: „Ich will bei Hektor bleiben! Und eure
          ollen Schmalzstullen will ich auch nicht essen!“ 
           
          Noch am gleichen Abend hielt ich wieder Einzug in die Berliner
          Pintschstraße, wo ich bis zur Schulentlassung 1934 ein weniger
          aufregendes, aber sehr behütetes Leben führen konnte. 
          Aus:
          „Zwischen Kaiser und Hitler“, 
          Reihe ZEITGUT, Band 15. 
          
           
        
          Friedrichshafen
          – Oldenburg 
          1935–1937 
          Jan
          Eilers 
          „Luftschiff
          – – – marsch!“
           
          „Was
          meinst du, wo wollen wir dieses Jahr hinfahren?“ 
          Wie in jedem Jahr stellte Vater mir auch im Sommer 1935 diese Frage.
          Er war Eisenbahner und bekam jährlich mehrere kleinere Freifahrten.
          Einmal im Jahr aber gab es für die ganze Familie eine große
          Freifahrt für Deutschland, Österreich, Schweiz und Schweden. 
           
          Lange zu überlegen brauchte ich nicht: „Ich möchte nach
          Friedrichshafen, um das neue Luftschiff LZ 129 anzusehen!“ Vater war
          einverstanden, zumal er die Landschaft dort sehr reizvoll fand. 
           
          Die nette Familie, bei der wir in Friedrichshafen Unterkunft fanden,
          hieß Sauter. Frau Sauter sagte uns, daß eine Besichtigung des
          Luftschiff-Neubaus nicht möglich sei. Sie wüßte es von ihrem Mann,
          der im nächsten Jahr als Maschinist auf dem LZ 129 fahren würde.
          Jawohl, es hieß „fahren“, nicht fliegen, wurden wir aufgeklärt.
          Aber wir hätten Glück, morgen früh könnten wir die Abfahrt des
          riesigen Luftschiffes „Graf Zeppelin“ nach Amerika beobachten, ihr
          Mann sei bereits an Bord. Die Ankunft eines Luftschiffes wurde
          rechtzeitig per Funk angesagt. Daraufhin wurden vom Luftschiffgelände
          drei Böllerschüsse abgefeuert, um die Ankunft der Bevölkerung
          bekanntzugeben. Auch die zum Luftpostdienst eingeteilten Postler
          hatten umgehend im Postamt zu erscheinen, um die mit Kraftfahrzeugen
          angefahrene Post zu sortieren. Das mußte immer sehr schnell gehen,
          sie eiferten dann um die Wette. Besonders verdiente Beamte im Post-
          oder Telegrafendienst erhielten ab und zu kleine Binnenflüge als
          Freiflüge. Frau Sauter erklärte uns auch, was das Kürzel „LZ“
          bedeutet, nämlich „Luftschiff Zeppelin“. Nun wollte ich noch
          wissen, weshalb zwischen LZ 127 und LZ 129 eine Lücke klaffte. Wir
          erfuhren von Frau Sauter, daß LZ 128 zwar auf dem Reißbrett
          existiere, aber warum es nicht gebaut werde, wisse sie selbst nicht.
          Den Grund dafür erfuhr ich erst viele Jahre später. 
           
          Ich konnte vor Aufregung nicht schlafen und war froh, als es endlich
          Morgen war und wir losgingen. Schon von weitem sahen wir die riesige
          Silberzigarre, umringt von einer großen Menschenmenge. Eine
          „Zigarre“ bekam auch mein Vater von einem Wachmann verpaßt. Vater
          wollte sich doch tatsächlich eine echte Zigarre anstecken und hatte
          nicht daran gedacht, daß vor uns eine gigantische Wasserstoffbombe
          lag! 
          Aus dem Bauch des Luftschiffes rauschten große Mengen Ballastwasser,
          man sah, wie das Schiff immer leichter wurde und die Haltetaue der
          Bodenmannschaft sich strafften. 
          Durch das Megaphon ertönte schließlich das Kommando: „Luftschiff
          – – – marsch!“ 
            
          Passagiere
          eilen zur „Fahrgastanlage“ des LZ 129. Sie befand sich etwa
          Mittschiffs und verfügte Backbord und Steuerbord über schräg nach
          unten stehende Fenster, die geöffnet werden konnten und den
          Passagieren eine hervorragende Aussicht boten. Zwei nach unten
          schwenkbare Treppen erlaubten den bequemen Ein- und Ausstieg am Boden.
          Für die Passagiere standen anfangs 50, nach der Erweiterung 72 Betten
          zur Verfügung. Für die Besatzung gab es 54 Schlafplätze. 
           
          Als das Schiff ganz langsam auf etwa 50 Meter Höhe gestiegen war, hörte
          man das Ring–ring–ring der Maschinentelegrafen. Die fünf
          Maybach-Motoren fingen an zu brummen, die riesigen Luftschrauben
          begannen zu mahlen. Aus den Lautsprechern des Schiffes erklang das
          Lied: „Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus!“ 
          Unter begeistertem Winken Tausender Zuschauer verschwand der Riese am
          Horizont. 
          Ein
          Jahr später sah ich ihn wieder. Es war am frühen Morgen des 26. März
          1936, als die beiden Luftriesen LZ 127 „Graf Zeppelin“ und LZ 129
          „Hindenburg“ in Friedrichshafen zu einer Deutschlandfahrt
          aufstiegen. Vier Tage, drei Nächte und 7 000 Kilometer lagen vor
          ihnen, bis sie am 29. März wieder in Friedrichshafen landen sollten.
          Kommandant von LZ 127 war normalerweise Hugo Eckener, diesmal aber war
          es Kapitän Hans von Schiller. 
           
          Kommandant von LZ 129 war Kapitän E. A. Lehmann. Dieser schrieb am
          28. März 1936 an Bord der „Hindenburg“ folgenden Bericht: 
           
          „Hamburg wirkt geradezu märchenhaft. Ein Meer von Lichtern, ein
          unendliches Flimmern, eine einzige prachtvolle Festbeleuchtung der
          ganzen Millionenstadt! 
          Die Sirenen der Schiffe vereinigen sich mit dem Pfeifen der
          Lokomotiven zu einer Begrüßungs-Sinfonie. Eine Stunde kreuzen unsere
          Luftschiffe über Hamburg, dann trennen wir uns für die Nacht von LZ
          127 ,Graf Zeppelin‘. 
          Die ,Hindenburg‘ verbringt die Nacht über der Nordsee. Gegen 4 Uhr
          wird Helgoland angefahren, um 6 Uhr Wyk auf Föhr, die Heimat des Präsidenten
          Christiansen, der an unserer Fahrt teilnimmt. Nach der sternklaren
          Nacht über der Nordsee machen wir jetzt eine Schlechtwetterfahrt. Der
          Himmel ist tiefverhangen, ununterbrochen rinnen die Regenbäche über
          die Scheiben. Der Begeisterung kann aber kein Landregen Abbruch tun,
          und so war auch der Empfang in Oldenburg überaus herzlich.“ 
            
          Luftschiff-Kapitän
          E.A. Lehmann verunglückte am 7. Mai 1937 mit dem Zeppelin LZ 129
          Hindenburg in Lakehurst tödlich. 
           
           
          In
          meiner Heimatstadt Oldenburg wurden die beiden Giganten am Sonnabend,
          dem 28. März 1936, um 9 Uhr erwartet. Wir Kinder hatten schulfrei und
          marschierten geschlossen zu den „Dobben-Wiesen“ rund um das
          damalige Regierungsviertel. Es war diesig, die Wolken hingen tief. 
           
          Ganz langsam schob sich dicht über den Spitzen der Lamberti-Kirche
          ein Ungeheuer, die Motoren auf halbe Kraft, heran. LZ 127 zog über
          uns eine Schleife und verschwand in Richtung Süden. LZ 129, die
          „Hindenburg“, war noch gigantischer anzusehen, sie drehte über
          uns jubelnden und winkenden Kindern ebenfalls eine Schleife. Das waren
          Eindrücke, die ich nie wieder vergaß. Es war gerade so, als ob die
          damals sehr bekannten Ozeanriesen „Bremen“ und „Europa“ über
          unseren Köpfen schwebten. 
            
          LZ
          129 „Hindenburg“, das „Fliegende Hotel“, 1936 in Lakehurst,
          USA. Inlandflüge kosteten 400, Südamerikafahrten 1 600 Reichsmark.
          Der Durchschnittsbürger konnte sich diesen Luxus nicht leisten. Dafür
          war der Komfort außergewöhnlich groß: Den Passagieren standen neben
          ihren Kabinen mit Warm- und Kaltwasser ein Speisesaal, ein
          Gesellschaftsraum, ein Rauchersalon mit Bar und ein Musikzimmer mit
          einem Aluminium-Flügel zur Verfügung. 
           
           
          Ein
          weiteres Jahr später, am 7. Mai 1937, kam das Ende der Luftschiffahrt.
          Als bei der Landung in Lakehurst in den USA das Landeseil den Boden
          berührte, flog die „Hindenburg“ in die Luft und verbrannte in
          wenigen Sekunden, mit ihr viele Passagiere, auch Kapitän Lehmann. 
           
          Die Ursache für das entsetzliche Unglück wurde lange Zeit
          verschwiegen. Erst nahezu 60 Jahre später kamen die Gründe ans
          Tageslicht. Bis zu „Graf Zeppelin“ war die Außenlackierung der
          Luftschiffe elektrisch leitend. Da das „Tausendjährige Reich“
          sehr devisenschwach war, wurden für den Außenanstrich der
          „Hindenburg“ erstmals nur inländische Rohstoffe verarbeitet.
          Obwohl der Lack Aluminiumpulver enthielt, war er nicht elektrisch
          leitend. So luden sich beim Gewitterflug Gerippe und Außenhaut
          elektrisch mit verschieden Potentialen auf. Hinzu kam das Abblasen von
          Wasserstoffgas bei der Landung, damit das Schiff schwerer wurde. Jetzt
          genügte ein einziger Funke, und die Katastrophe wurde ausgelöst. 
           
          Eines habe ich jedoch nie erfahren: ob Vater Sauter aus
          Friedrichshafen das Unglück überlebte. 
          Noch ein Geheimnis wurde erst jetzt gelüftet. LZ 128 sollte erstmals
          mit dem nicht brennbaren Helium gefüllt werden. Helium in größeren
          Mengen gab es aber nur in den USA. Die Amerikaner hatten die Lieferung
          bereits zugesagt. Doch als Hitler im Jahre 1934 etwa hundert Männer,
          darunter solche, die ihm zur Macht verholfen hatten, als „Maßnahme
          der Staatsnotwehr“ ermorden ließ, schreckten die Amerikaner auf.
          Sie stoppten die Heliumlieferung. Damit ging die Ära der
          Luftschiffahrt vorerst zu Ende.
           
          
           
        
          Brüssow, Uckermark 
          1936 
          Ursula
          Meier-Limberg 
          Mein
          Freund Klaus
           
          Mit zwölf
          Jahren hatte ich meinen ersten Freund. Er hieß Klaus und kam jeden
          Sommer in den Ferien aus Berlin zu seiner Tante Mieze. Sie war Mutters
          Freundin, deshalb nannte auch ich sie Tante. Klaus war wie ich eine
          Wasserratte. Und so zogen wir jeden Tag mit Badetasche und einem Paket
          Butterbrote an den Großen Brüssower See. 
           
          Klaus war anders als meine alten Schulkameraden. Er konnte und wußte
          alles, er neckte mich nicht, er zog nicht an meinen Zöpfen, und er dümpelte
          mich nie im Wasser. Er sagte auch nie zu mir: „Du bist doof.“ Er
          ging schon fünf Jahre aufs Gymnasium. Meine Umschulung aufs Lyzeum in
          Prenzlau hatte wegen Großmutters Tod nicht stattgefunden, denn ich
          hatte ja bei ihr wohnen sollen. 
           
          Klaus machte mich auf viele schöne Dinge aufmerksam. So sah ich
          unseren See plötzlich mit ganz anderen Augen. Jeden Tag hatte er ein
          anderes Gesicht. Mal war er tiefgrün, mal grau, dann wieder schwarz
          und unheimlich. Manchmal meinten wir, auf dem Grund funkelnde
          Edelsteine zu erkennen. Wenn wir morgens sehr früh zum Schwimmen
          gingen und erst wenige Menschen am See waren, konnten wir hören, wie
          das Wasser rauschte und beim Aufschlag der Wellen an den Laufsteg
          gluckste. 
          „Hörst du“, sagte dann Klaus, „jetzt will der See mit uns
          sprechen.“ 
            
          Sommer
          1936: Das bin ich nach dem Schwimmen im Bademantel. Ich war ebenso wie
          mein Freund Klaus eine Wasserratte. 
           
           
          Manchmal
          spielten wir Wolkenbildersuchen und freuten uns, wenn jeder dasselbe
          Bild sah. 
           
          Wir schwammen fast jeden Tag über den See. Das war weit und dauerte
          fast 45 Minuten. Zurück liefen wir meistens durch den Park. Wenn wir
          Glück hatten, nahm uns auch schon mal der Fischer mit seinem Kahn
          mit. Dann bekam ich einen Kranz aus Seerosen, denn schwimmend konnten
          wir sie nicht erreichen, da es zu gefährlich war, sich in ihnen zu
          verfangen. Es gab nichts, was unsere Harmonie störte. Wir waren mit
          allem in Einklang. 
           
          Doch dann geschah etwas Unfaßbares. Klaus wurde an einem wunderschönen,
          sonnigen Tag mit großem Gebrüll aus der Badeanstalt geworfen. „Du
          Judenlümmel hast hier nichts zu suchen!“ 
           
          Ich verstand überhaupt nichts. Was war hier los? Wieso „Judenlümmel“? 
          Ich schrie zurück: „Er hat euch doch nichts getan!“ 
          Klaus nahm seine Sachen und ging, ohne ein Wort zu erwidern. Außerhalb
          der Badeanstalt setzte er sich auf die Wiese, den Kopf in beide Hände
          gestützt. Dann beschimpfte man mich, daß ich als deutsches Mädchen
          mich „mit so einem“ abgebe. 
           
          Ich lief zu Klaus, setzte mich zu ihm ins Gras und wußte nicht, was
          ich machen sollte. Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen.
          Aber die Scheu vor solcher Zärtlichkeit war zu groß. Schließlich
          gingen wir nach Hause – Hand in Hand, zum ersten Mal. 
           
          Am nächsten Tag war Klaus abgereist. 
            
          Der
          Große Brüssower See, über den wir in den Sommerferien fast täglich
          schwammen. Die Zöpfe steckten unter Badekappen. Die in der Mitte
          (Kreuz) bin ich zusammen mit Schulfreundinnen. 
          Wenig
          später stand im „Stürmer“, der verrufensten Zeitung der Nazis:
          „Ein deutsches Mädchen, U. L., schwamm mit einem Judenlümmel über
          den Brüssower Großen See.“ 
          Dies war der erste Schatten, der auf mein junges und bisher
          unbeschwertes Leben fiel. 
           
          Vater konnte mir auch nicht erklären, was ein Jude sei. Ich solle dem
          lieben Gott danken, daß ich keine Jüdin sei, und ihn bitten, Klaus
          beizustehen. Ich erfuhr dann, daß Klaus einen jüdischen Vater hatte,
          seine Mutter aus Brüssow, unserem Heimatort, stammte und Christin
          war. 
           
          Ich verstand das alles nicht. Ich fragte immer wieder, aber ich hatte
          den Eindruck, daß niemand so recht wußte, was ein Jude sei. Ich hörte
          immer nur, die seien eben anders. Sie seien schuld am Ersten Weltkrieg
          gewesen, sie seien schuld an der Arbeitslosigkeit und so weiter. Vater
          meinte, daß es immer noch Menschen gebe, die den Juden böse seien,
          weil diese Jesus Christus gekreuzigt hätten. 
          „Ja, aber das ist doch so lange her, damit hat Klaus doch nichts
          mehr zu tun!“ warf ich ein. 
           
          Mit diesem traurigem Erlebnis ging meine wunderschöne Kindheit zu
          Ende. Kurz darauf kam ich auf eine weiterführende Schule und war nur
          noch in den Ferien zu Hause. Die Sehnsucht nach meinem kleinen
          Heimatort und die Erinnerung an Klaus sind bis heute geblieben. 
          Aus:
          „Pimpfe, Mädels & andere Kinder“, 
          Reihe ZEITGUT, Band 4. 
          
           
        
          Erftstadt-Köttingen,
          Nordrhein-Westfalen 
          um 1950 
          
          Luise Rüth 
          Ferienglück
           Als
          Kind verbrachte ich meine Ferien im Sommer wie im Winter immer bei den
          Großeltern auf dem Land. Diese Ferien waren eine Kette von glücklichen
          und unbeschwerten Tagen und Wochen. Ich glaube, in meinem ganzen späteren
          Leben habe ich mich nie mehr so frei und zufrieden gefühlt. 
           
          Großmutter liebte uns Kinder sehr, und das zeigte sie uns jeden Tag
          aufs Neue. Sie ließ uns völlige Freiheit in allen unseren
          Entscheidungen und in unserem Tun. 
           
          Jeden Morgen lag der Tag wie ein herrliches Abenteuer vor mir. Mit den
          Dorfkindern streifte ich durch Feld und Wald. Die Kinder hier hatten
          eine ganz andere Art von Spielen als bei mir zu Hause in der Stadt.
          Wir bauten Baumhäuser und schmückten sie mit alten Teppichen und
          Mobiliar. Alles Eßbare, was wir ergattern konnten, wurde von zu Hause
          herbeigeschleppt und im Baumhaus gemeinsam verzehrt. Unsere Mahlzeiten
          waren oft eine bunte Mischung aus Butterbroten, Plätzchen, Obst, Gemüse,
          Wurst und Käse, doch es schmeckte uns vorzüglich. 
           
          An anderen Tagen bildeten wir Banden und streiften durch die Dorfstraßen.
          Kein Obstbaum war vor uns sicher. Wir wußten, wo es die süßesten
          Kirschen, die saftigsten Birnen und die dicksten Äpfel gab. 
           
          Ich war im Vergleich zu den anderen Kindern sehr klein, aber dafür
          gewandt, und konnte schnell laufen. Also wurde immer ich zum
          Obststibitzen vorgeschickt. Manchmal erwischte uns der Gartenbesitzer
          und es gab Prügel. Lief ich dann zu Großmutter, so tröstete sie
          mich mit den Worten: „Wer obsten geht, darf sich eben nicht
          erwischen lassen!“ 
          Regnete es, liefen wir an den Häusern vorbei und drückten auf die
          Klingelknöpfe. „Mäuschenklopfen“ nannten wir das. Versteckt
          hinter der nächsten Ecke, hatten wir einen Heidenspaß, die
          erstaunten und erzürnten Gesichter der gefoppten Leute zu sehen. 
           
          Im Sommer gingen wir fast täglich an den Badesee. Es war ein See, der
          aus der ehemaligen Kohlengrube entstanden war. Wir schmierten uns von
          oben bis unten mit nassem Kohlendreck ein und spielten „Neger“.
          Trocknete die Kohle am Körper, dauerte es viele Tage, bis wir wieder
          richtig sauber waren. 
           
          Abends durften wir Kinder draußen bleiben, solange wir wollten. Die
          Erwachsenen saßen auf den Haustreppen unter den alten Lindenbäumen,
          schwatzten und sangen Lieder zur Gitarre. Oft schlief ich dabei auf
          dem Schoß meiner Großmutter ein. Alles war so friedlich, wie man es
          nur als Kind erleben kann. 
           
          In den Winterferien tobten wir im Schnee oder auf dem zugefrorenen
          See. Wir bauten Hütten aus Schnee mit der gleichen Ausdauer, wie wir
          sie im Sommer aus Ästen und Laub gebaut hatten. Am späten Nachmittag
          trieben uns die Dunkelheit und unsere steifgefrorene Kleidung nach
          Hause. Dort wurden wir aus unseren nassen Sachen geschält und mit
          warmen Handtüchern abgerubbelt. Dann ging es in die gute Stube, nahe
          an den warmen Ofen, aus dem es schon verheißungsvoll nach Bratäpfeln
          roch. 
            
          Für
          mich gab es nichts Schöneres, als die Ferien bei den Großeltern auf
          dem Land zu verbringen. Das Foto zeigt mich zusammen mit meiner Mutter
          und Verwandten. 
           
          
           
          Der
          Samstag war auf dem Dorf ein besonderer Tag. Alles rüstete sich für
          den Sonntag, und das geschah unter ganz bestimmten, festen Regeln. In
          der Frühe ging die ganze Familie zum Einkaufen – natürlich nur bis
          zum einzigen Tante-Emma-Laden im Dorf. Großmutter schlug eine Ecke
          ihrer großen Schürze um, befestigte sie im Bund, und wir zogen los. 
           
          Die Gerüche im kleinen Dorfladen waren köstlich. Das Faß mit
          Salzheringen stand neben dem Topf mit Rübensirup. Gleich am Eingang
          waren Öl, Essig und Suppenwürze aufgebaut. Zucker, Mehl und Salz gab
          es lose in mitgebrachten spitzen braunen Tüten. Heringe wurden in
          Zeitungspapier eingewickelt. Alle unsere Einkäufe verschwanden in
          Omas weiter Schürze. 
          Ab Monatsmitte wurde angeschrieben, wie fast jeder im Dorf es machte.
          Der Händler notierte alles in ein kleines schwarzes Heft. Das
          hinderte Großmutter aber nicht, jedem von uns Kindern zwei
          Manna-Bonbons oder eine Lakritzschlange zu kaufen. 
           
          Samstag mittag gab es immer Eintopf zu essen, je nach Jahreszeit
          Bohnen, Linsen, Graupen, Erbsen oder Möhren. Spätestens am
          Mittagstisch wußten wir, es ist Samstag. 
          Gleich nach dem Essen heizte Großvater in der Waschküche den großen
          Wäschekochkessel an. Dann nahm er die Zinkwanne vom Haken an der
          Wand. Kochte nach einiger Zeit das Wasser, wurden wir Kinder mit
          kritischen Blicken der Reihe nach gemustert. Derjenige von uns, der am
          wenigsten schmutzig wirkte, war Großmutters erstes Opfer. Noch in der
          Küche wurde er entkleidet und dann über den Hof in die heiße Waschküche
          gebracht. Widerstand nutzte wenig. Wir wußten, es mußte sein, wie
          Großmutter sagte. 
           
          In der Waschküche konnte man vor lauter Dampfschwaden kaum noch etwas
          sehen. Großvater schleppte eimerweise kaltes und heißes Wasser
          heran. Sofort wurden wir in die Wanne gesteckt. Oft war das Wasser
          noch so heiß, daß wir am ganzen Körper augenblicklich krebsrot
          wurden. Unsere Protestschreie veranlaßten Großmutter lediglich,
          etwas von „guter Durchblutung“ zu murmeln. 
           
          Jetzt kam das Schlimmste: Waren wir von Kopf bis Fuß mit Kernseife
          eingeschmiert, nahm sie die Wurzelbürste und schrubbte uns ab. An
          anderen Tagen der Woche nahm sie es nicht so genau: „Schmutz ist
          wichtig für die Abwehrstoffe,“ meinte sie, und „Dreck reinigt
          Magen und Darm“. Samstags dann warf sie ihre Theorien über den
          Haufen. 
           
          Zum Schluß wurden die Haare mit Essig gespült, was bei uns zu
          neuerlichem Geheule führte. Etwas Essig bekamen wir meistens in die
          Augen, und auf der roten, gereizten Haut brannte er teuflisch. War der
          erste Kandidat erlöst und in ein vorgewärmtes Badetuch gepackt,
          schritt Großvater wieder in Aktion. Vorsichtig schöpfte er den
          Seifenschaum aus der Wanne, goß einen Eimer heißes Wasser nach, und
          schon war das nächste Kind an der Reihe. Schließlich war Großvater
          selbst nach Mutter, Vater und Großmutter der letzte, der badete. Wenn
          er fertig war, warf er noch die Schmutzwäsche der Woche in das
          Badewasser, wo sie bis Montag zum Einweichen blieb, um dann ebenfalls
          mit Seife und Wurzelbürste bearbeitet zu werden. 
           
          Für uns Kinder waren aber noch nicht alle Schrecken vorüber. Großmutter
          hatte inzwischen schon die Brennschere aus den glühenden Kohlen
          geholt. An einer alten Zeitung testete sie deren Hitzegrad. Verbrannte
          die Zeitung, wurde die Brennschere zum Abkühlen durch die Luft
          geschwenkt, um schließlich uns Mädchen mit der richtigen Temperatur
          Locken in die Haare zu brennen. Unsere Locken hielten dann fast eine
          Woche. Ein bißchen stolz darauf waren wir schon: Keiner konnte so
          gute Locken brennen wie Großmutter. 
           
          Den Jungen wurde mit Großvaters Rasiermesser säuberlich der Kopf
          fast kahl geschoren. 
           
          War die ganze Tortur vorbei, durften wir wieder auf die Straße. Wir
          liefen von Haus zu Haus, um zu sehen, welches Wasser bei den Nachbarn
          aus dem Abfluß kam. Es gab damals noch keine Kanalisation, und alles
          Abwasser lief über die Straße. Bei jedem Haus sah es anders aus,
          manchmal sogar grün. Das fanden wir toll, und wir schnupperten daran,
          wußten wir doch, daß es Badezusatz aus Fichtennadeln war. Das roch
          so schön nach Wald. 
           
          Bei einigen Häusern war das Abwasser fast schwarz – das war das
          Waschwasser der Bergmannskleidung. Woanders lief rotes oder gelbgrünes
          Wasser über die Straße. Dann wußten wir, in diesem Haus gibt es
          rote Bete oder Wirsing zum Sonntagsbraten. Wir bastelten Schiffchen
          aus Papier und ließen sie in der Gosse schwimmen: vom Oberdorf zum
          Unterdorf. 
           
          Am schönsten war es im Winter. Das Abwasser gefror zu Eis, und die
          Straße schimmerte in allen Farben. 
          Wenn es aus den Häusern nach Sonntagsbraten und Kuchen roch, war das
          für uns ein Zeichen, nach Hause zu laufen. Am späten
          Samstagnachmittag wurden nämlich der Sonntagsbraten angesetzt und die
          großen Bleche mit Obstkuchen gebacken. Das duftete köstlich und wir
          beeilten uns. 
           
          Daß Großmutter uns zuerst ein bißchen ausschimpfen würde, weil wir
          schon wieder schmutzig waren, daran hatten wir uns gewöhnt. Aber
          dann, während sie uns ein großes Stück warmen Obstkuchen zuschob, würde
          sie sagen: „Bald ist wieder Samstag.“ 
           
          Unter Tränen nahte der letzte Ferientag. Dann hieß es Abschied zu
          nehmen, und das „andere“ Leben begann wieder. Zu Hause zählte ich
          ungeduldig die Tage, bis es endlich hieß: „Ferien ... du darfst sie
          wieder bei deinen Großeltern verbringen!“ 
          
           
        
          Köln–Mittenwald,
          Bayern; 
          1950–Mai 1953 
          Hans
          Engels 
          „Willkommen
          in Mittenwald!“
           
          Die
          Zeiten wurden wieder ruhiger, und die Sorge um Nahrung und Kleidung rückte
          aus der Mitte des Alltags etwas beiseite. Und urplötzlich vorwitzten
          hier und da die ersten kleinen Wünsche hervor, zunächst etwas
          zaghaft vielleicht. Man konnte ja nie wissen, wie der liebe Mitmensch
          mit neidischem Blick aus den Augenwinkeln blinzelte, unauffällig,
          aber doch so, daß man es nicht übersehen konnte. Und so mag auch
          mein Vater lange gezögert haben, bis er es wagte, sich den ersten
          Wunsch zu erfüllen. Er kaufte freitagabends eine Tafel Schokolade,
          „Piasten Mocca Sahne“, zu 1,30 DM. Sie war das Wochenendvergnügen
          für die ganze Familie. 
           
          Doch bald, als unser Jahrhundert Halbzeit hatte, rückte Vater mit
          einem Wunsch heraus, der ihn wohl schon lange bewegt haben mochte, ihn
          immer wieder in Unruhe versetzte und dann dazu trieb, lange
          Zahlenkolonnen aufs Papier zu malen, sehr sorgfältig, wie es so seine
          Art war. 
           
          Als er schließlich mit dem Lineal unter das Endergebnis einen Strich
          machte, seufzte er laut auf und schnaufte: „Das wird noch eine Weile
          dauern, bis wir nach Mittenwald fahren können.“ 
           
          „Wieso nach Mittenwald?“ Mutter war völlig überrascht. „Das
          ist doch viel zu weit und vor allen Dingen zu teuer!“ 
          „Aber ich möchte doch in die Berge, in die Alpen. Ich habe die
          Berge noch nie mit eigenen Augen gesehen!“ (...) 
          Kaum
          hatte das Jahr 1953 begonnen, war Vater wieder auf der Suche nach
          neuen Reiseprospekten. Als er schließlich das Richtige aufgetrieben
          hatte, viel Auswahl gab es ja nicht, saß er wieder einige Abende am Küchentisch,
          schrieb und rechnete, verwarf seine Aufstellungen und begann von
          Neuem. Doch irgendwann legte er erleichtert den Bleistift zur Seite.
          Es war geschafft! Es gab keinen Zweifel mehr. Die Ferienreise nach
          Mittenwald war perfekt: Zehn Tage im Mai, in der Vorsaison. Da war es
          billiger. „Das können wir uns gerade so leisten“, meinte Vater.
          Noch oft mußte ich, wenn ich am Essen herumnörgelte, hören, daß
          wir ja sparen müßten. Wir würden doch in die Ferien fahren, und man
          könnte schließlich nicht alles haben. 
           
          In den letzten Wochen vor der Fahrt fieberten wir alle vier, Mutter,
          Vater, mein kleiner Bruder, sieben und ich, elf Jahre alt, in äußerster
          Anspannung auf das große Ereignis zu. Und als wir uns an einem
          Donnerstagabend gegen 22 Uhr auf die Polster des Fern-D-Zuges fallen
          ließen, war dies ein wunderbares Gefühl: Wir hatten es geschafft! 
           
          Es folgte eine lange Nacht im dämmrigen Zug, die kein Ende nehmen
          wollte. An Schlaf war ja nicht zu denken, obwohl mir immer wieder die
          Augen zufielen. 
           
          Als schließlich der Zug von Garmisch-Partenkirchen nach Mittenwald
          hinaufkeuchte, stand die Sonne schon hoch am Himmel, und Vater
          begeisterte sich und uns immer mehr für die Großartigkeit und Schönheit
          der Bergwelt. 
           
          Meine Aufmerksamkeit erregte im Augenblick aber wesentlich mehr ein
          recht dicker Herr. Sein Leib füllte eine riesige Lederhose aus, die
          bis zu den Knien reichte. Damit sie nicht herunterfiel, hatte er sie
          an wunderschönen bunten Trägern befestigt. Dazu trug er ein weißes
          Hemd und Strümpfe, an denen die Füße fehlten. 
           
          Er blieb bei den Fahrgästen stehen, begrüßte sie und redete mit
          ihnen. Als er endlich zu uns kam, lachte er uns an: „Grüß Gott,
          willkommen in Mittenwald! Ich bin der Markus, und ...“ 
          Ja, das war es dann, denn, was er noch sagte, kann ich nicht
          wiedergeben. Nicht, weil ich es vergessen hätte, nein, weil ich ihn
          nicht verstand, obwohl er sich viel Mühe machte, besonders laut zu
          reden. 
           
          Mein zweifarbiges rundes Käppchen, das ich auf dem Kopf trug, schien
          ihm ausnehmend gut zu gefallen. Denn plötzlich nahm er es mir vom
          Kopf und grinste, als er mein erschrockenes Gesicht sah. Doch mein
          Erschrecken war umsonst, denn Markus heftete ein Abzeichen vom
          Geigenbauort Mittenwald zu den anderen Anstecknadeln an mein Käppchen
          und setzte es mir wieder auf. Markus sollte in den nächsten Tagen
          noch des öfteren unser lustiger und kurzweiliger Reisebegleiter sein.
          Schade nur, daß man ihn so schlecht verstand. 
           
          Doch nun hatte er sich schon viel zu lange bei uns aufgehalten. Er
          hatte es plötzlich sehr eilig, denn der Zug rollte langsam in
          Mittenwald ein. Noch ein greller Pfiff, der Zug holperte über einige
          Geleise, und bereits bevor er stand, ertönte vom Bahnsteig her eine
          feierlich-fröhliche Blasmusik. 
          Wir schauten aus dem Zugfenster: Was mag das für ein Fest sein? Oder
          ist vielleicht ein berühmter Ehrengast unter den Fahrgästen? 
           
          Es dauerte eine Weile, bis Vater meinte, der Blasmusikempfang gelte
          wohl uns, den Gästen. Während Vater dabei war, die beiden Koffer aus
          dem Zug zu schaffen, blickte ich durch die Fensterscheiben auf den
          Bahnsteig und sah etwas sehr Seltsames: Da standen viele kleine
          Handwagen. Und zu jedem Wagen gehörte jemand, meist war es eine Frau,
          die gespannt auf die Leute schaute, die aus dem Zug stiegen. 
           
          Als auch wir endlich den Ausstieg erreichten und auf den Bahnsteig
          kletterten, löste sich aus der wartenden Menge eine große, hagere
          Frauengestalt mit braungebranntem Gesicht, begrüßte uns, redete
          etwas, das ich nicht verstand und gab jedem die Hand, die sie vorher
          an der Schürze abgeputzt hatte. Nun packte sie mit einer
          Leichtigkeit, als seien sie mit Watte gefüllt, unsere Koffer, setzte
          sie auf das Wägelchen und zog los. Wir hinterher. Die Hagere zog den
          Wagen, und wir versuchten beizubleiben. Wenn der Abstand gar zu groß
          wurde, verlangsamte unser Zugpferd die Fahrt ein wenig und ließ uns
          vorübergehend aufschließen. 
           
          Als wir endlich unsere Ferienunterkunft erreicht hatten, sehnte ich
          mich nach einem Bett. Ich war ja so müde! 
          „Zuerst wird sich gewaschen!“ tönte da die Mutter, „wenigstens
          Hände und Gesicht!“ 
          Ich wurde sogar ein wenig munter, denn da war wieder etwas Besonderes:
          In dem Zimmer war kein Wasserhahn. Man mußte das Wasser aus einem
          Krug in eine Porzellanschüssel gießen. War er leer, so konnte man
          neues, frisches Wasser an einer Schwengelpumpe in der Küche holen.
          (...) 
          Die
          Ferientage gingen dem Ende zu, und nach Vaters Planungen standen noch
          zwei Wanderungen auf dem Programm. Aber schon am Morgen klappte es
          nicht so recht mit dem Aufstehen, und dann schien die Sonne so
          unbarmherzig vom Himmel, daß der Weg immer länger zu werden schien
          und daß die Zeit immer schnellere Füße bekam. Als wir schließlich
          an unserem Zielgasthaus ankamen, war der Mittag schon längst vorbei.
          Alle Speisen auf der Speisekarte, die für uns erschwinglich waren,
          waren „ausgegangen“, außer Königsberger Klopse. Aber die mochte
          keiner von uns, und außerdem fährt man nicht nach Mittenwald in die
          Ferien, um Königsberger Klopse zu essen. Der Koch in der Küche, so
          meinte die Bedienung, wäre wohl bereit, für uns noch Wiener
          Schnitzel zuzubereiten. Ohne nach dem Preis zu fragen, bestellte Vater
          für jeden von uns ein Wiener Schnitzel, dazu Röstkartoffeln, Salat
          und zwei Bier und zwei Limo. 
          Und dann kamen die Schnitzel. Riesenschnitzel! 
          Noch nie hatte es für mich zu einem ganzen Schnitzel gereicht und außerdem
          war dieses an Größe nicht zu überbieten. Mir schmeckte es
          vortrefflich, doch im Stillen hegte ich Zweifel: Ob Vater das auch
          alles bezahlen kann? 
          Als er bezahlt hatte, lachte er: „So, jetzt sind wir eine Sorge los.
          Wir brauchen uns keine Gedanken mehr zu machen, wie wir unser Geld
          ausgeben.“ 
           
          Und da es schon Nachmittag war, für einen weiteren Spaziergang viel
          zu spät, legten wir uns auf ein Rasenstück am Kranzberg und genossen
          die wohlige Wärme der Sonnenstrahlen des letzten Ferientages. 
          Aus:
          „Schlüssel-Kinder“, Reihe ZEITGUT, Band 6. 
          
           
        
          Essen
          – Lido di Jésolo, nahe Venedig, Italien, 
          Sommer 1957 
          Erika
          Tappe 
          Eine italienische Nacht 
          Mit
          meiner Zwillingsschwester Ingrid und vier weiteren Geschwistern
          erlebte ich die Nachkriegsjahre in meiner Geburtsstadt Essen. Meine
          Mutter hatte während unserer ersten Evakuierungsetappe in Krumbach,
          Bayern, die Mutter von fast gleichaltrigen Zwillingen kennengelernt
          und sich mit ihr angefreundet. In Essen wohnten wir nun zwar fast eine
          Stunde Fahrzeit auseinander, dennoch freundeten der Zwilling Karin und
          ich uns wieder sehr an. Leider trafen wir uns nur in den Ferien, da
          sie eine Internatsschule besuchte. Meine allererste Auslandsreise
          unternahm ich mit Karin. 
           
          Im Sommer 1957 bin ich gerade 18 Jahre alt geworden. Von meiner
          Familie verreist niemand. Karin aber darf mit Klaus, einem Freund
          ihrer Familie und dessen Freund, zum Zelten an den Gardasee fahren.
          Nach vielen Überredungsversuchen von Karin und auch deren Mutter, die
          gerne eine Gefährtin an der Seite ihrer Tochter hätte, erlauben
          meine Eltern, daß ich mitfahren darf. Die Jungen sind in unserem
          Alter. Klaus’ Freund fährt einen VW Käfer, in den wir das Gepäck
          und alle Campingutensilien hineinstopfen. Ein Zelt für die Männer,
          ein Zelt für uns Mädchen, viele Versprechungen – endlich kann das
          Abenteuer beginnen. 
           
          Am
          Gardasee aber gefällt es uns auf dem Campingplatz überhaupt nicht,
          weil er völlig überfüllt ist und das Wasser dort sehr seicht und
          zum Schwimmen wenig geeignet ist. Schon überschreiten wir das
          strengste Verbot, weiter nach Süden zu fahren. 
           
          Nach
          dem Wälzen einiger Campingführer landen wir auf einem herrlichen
          NSU-Campingplatz in Lido di Jésolo in der Nähe von Venedig. Der
          Platz ist streng bewacht, Italiener dürfen ihn nicht betreten. Die
          einzigen, die wir zu Gesicht bekommen, sind die Kellner im Restaurant
          und Antonio, der Bademeister, der in seinem Ruderboot die Badenden
          bewacht. Wir lernen nette junge Deutsche kennen, und unsere
          „Aufpasser“ gehen bald eigene Wege. Karin und ich halten wie Pech
          und Schwefel zusammen, kein männliches Wesen kann uns trennen. 
            
          Meine
          erste Reise nach Italien führte mich 1957 nach Lido di Jésolo, nahe
          Venedig. Hier sah ich zum ersten Mal Esel, die ich zuvor nur aus dem Märchenbuch
          kannte. 
           
          Am letzten Abend vor der Heimfahrt machen wir vier abends dennoch
          gemeinsam einen Bummel in dem etwa eine halbe Busstunde entfernten
          Ort, um einige Mitbringsel zu besorgen. Nach einiger Zeit trennen wir
          uns, damit jeder seine Einkäufe erledigen kann, zu viert ist es zu mühsam.
          Die Geschäfte sind bis 24 Uhr geöffnet. Um Mitternacht wollen wir
          uns am letzten Bus treffen, um miteinander zurückzufahren. 
           
          Ich habe mich für diesen Ausflug fein gemacht, habe mein zartgrünes
          Sommerkleid mit Dirndlausschnitt und breitem Bastgürtel und darunter
          einen wunderschönen weiß-rosa Petticoat angezogen. Am Ausschnitt ist
          das Kleid mit rot-karierten Stoffrüschen unterlegt, am weit
          schwingenden Rock ist eine Applikation angebracht: ein Sonnenschirm
          aus Bast und ein Liegestuhl mit rotkariertem Bezug. Mit meinem blonden
          Pferdeschwanz gebe ich ein sommerlich fröhliches Bild. 
            
          Meine
          Freundin Karin und ich, rechts, an einem Brunnen in Venedig. Die
          beiden kessen Italiener wollen sich unbedingt mit uns fotografieren
          lassen. 
           
          Zur verabredeten Zeit stehe ich an der Bushaltestelle. Ich warte, von
          meinen Freunden ist nichts zu sehen. Der letzte Bus kommt, Männer
          steigen ein. Mit meinen vielen kleinen Päckchen im Arm renne ich
          aufgeregt hin und her und halte Ausschau nach meinen Gefährten. Sind
          sie etwa schon weg? Ich kann doch nicht allein hier stehenbleiben! 
           
          In letzter Minute springe ich in den anfahrenden Bus. Er fährt die
          vertraute Strecke, ich bin beruhigt. Endlich kommt der Schaffner durch
          den überfüllten Wagen auch zu mir. Als ich mein Ziel ansage, bricht
          ein Wortschwall über mich herein. Ich verstehe überhaupt nicht, was
          er meint. Die vielen Männer, die mich schon zuvor verstohlen
          musterten, werden ebenfalls lebhaft und beteiligen sich am Gespräch.
          Mir wird ziemlich mulmig. Langsam müßte ich doch am Ziel sein! 
           
          Ich spähe nach draußen in die finstere Nacht. Nur vom
          Busscheinwerfer erhellt, fahren wir jetzt durch eine mir völlig
          unbekannte, waldreiche Gegend. „Stop, – stop!“ rufe ich
          aufgeregt und drängele mich durch zur Tür. Aber die Leute halten
          mich fest und bemühen sich, mich zu beruhigen. Vergeblich versuche
          ich, ihnen klarzumachen, das ich woanders hin muß. Sie können oder
          wollen mich nicht verstehen. 
           
          Wir fahren nun schon eine Stunde, und langsam steigen Angst und
          Schrecken in mir hoch. Endlich hält der Bus. Schnell stürze ich nach
          draußen, doch dann merke ich, daß alle Mitreisenden den Wagen
          verlassen, auch der Fahrer. Noch einmal rede ich eindringlich auf ihn
          ein, er aber geht einfach weg, wie all die anderen. Um mich herum ist
          es nun stockdunkel, kein Scheinwerfer erhellt mehr die Gegend. Das
          einzige Licht und auch Lärm dringen aus einem Haus auf der anderen
          Straßenseite, sonst kann ich in der Dunkelheit keine anderen Gebäude
          ausmachen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ebenfalls dorthin zu
          gehen. 
           
          Ich trete als letzte ein, sehe viele Männer, Rauch, einen Tresen, es
          herrscht gewaltiger Lärm – ich bin in einer Kneipe. Hereingeweht
          wie eine zarte erschrockene Sommerblume in diese von Gerüchen geschwängerte
          Luft muß ich wohl ziemlich fehl am Platze aussehen, denn die Gespräche
          verstummen, und die Leute starren mich äußerst verblüfft an. 
          Jetzt lösen sich zwei stark geschminkte Frauen aus der Männergruppe,
          kommen auf mich zu und zupfen an meinem Kleid. Dann hebt die eine
          meinen Rock und faßt an meinen Petticoat, worauf auch die andere
          beginnt, ihn zu betasten. Sie fangen an zu kichern und zu kreischen,
          die Männer lachen. Schnell ziehe ich meinen Rock wieder nach unten.
          Die Umstehenden lachen noch lauter. Vor Angst und Wut zitternd schreie
          ich sie an: „Laßt mich in Ruhe, sonst hole ich die Polizei!“ 
           
          Die Weiber lachen und johlen und schieben mich zur Theke. Der Wirt,
          ein älterer Mann, lacht ebenfalls. Dann spricht er mich plötzlich
          auf Deutsch an. Von meiner Verzweiflung aber will er nichts hören.
          Dafür sagt er mir viele deutsche Wörter auf, die er während der
          Kriegsgefangenschaft in Deutschland gelernt hat. Auf einmal
          unterbricht er seine Rede und sagt, ich könne bei ihm schlafen. 
           
          Ich frage ihn, ob mein letztes Geld denn für die Übernachtung reiche
          und ob er beim Campingplatz anrufen könne. 
          Er aber grinst nur und sagt: „Du kannst bei mir im Bett schlafen!“ 
           
          Anschließend spricht er wieder mit seinen Kumpanen, alle biegen sich
          vor Lachen. 
           
          Ich drohe, daß ich jetzt zu Fuß nach Hause laufe und der Polizei
          sage, wie schlecht sie sich benehmen. Wieder übersetzt er, und
          schallendes Gelächter antwortet ihm. Fast fange ich an zu weinen. Was
          soll ich nur machen? 
           
          Einerseits fühle ich mich beschützt in dem Haus und gleichzeitig
          ganz schrecklich ausgeliefert. Solange so viele Menschen um mich herum
          sind, bin ich relativ sicher. Der Wirt aber macht mir Angst und ist
          doch der einzige, der mich etwas versteht. Ich merke, daß die Männer
          beratschlagen, danach verläßt einer den Raum. Nach einer Weile kommt
          er zurück, und ich werde nach draußen geschoben. Vor dem Haus auf
          der Straße steht ein Mann in Motorradmontour neben seiner großen
          Maschine. Ich solle aufsitzen, wird mir bedeutet, und während ich
          noch ängstlich zögere, packt man mich und schon sitze ich hinter dem
          Motorradfahrer. Unter dem Gejohle der Zurückbleibenden fahren wir ab. 
           
          Ein Stück geht es die Hauptstraße in Richtung Jésolo, und mir wird
          etwas leichter ums Herz. Plötzlich verlangsamt er die Fahrt, und wir
          biegen in einen einsamen Feldweg. Rechts ein Wassergraben, links ein
          Wassergraben mit Schilf. Gespenstisch leuchten Maisfelder im
          Lichtkegel, der immer schwächer wird, je langsamer wir über den
          furchtbar buckligen Sandweg fahren. 
           
          Jetzt hält der Fahrer an. Mir wird ganz kalt vor Angst, als er
          absteigt, und in meiner Phantasie, die Purzelbäume schlägt, sehe ich
          mich schon als Leiche im Wassergraben schwimmen ... 
           
          Er aber nimmt mir zuerst alle Päckchen ab – ich zittere – und
          steckt sie sich unter die Jacke. Dann bedeutet er mir, mich mit meinen
          Armen um ihn zu schlingen und mich festzuhalten. Ich wage es, ihn zu
          umarmen, während er die Maschine startet. Nun leuchtet das
          Scheinwerferlicht wieder heller, und nach einiger Zeit erreichen wir
          eine Landstraße, die mir allmählich immer bekannter vorkommt. 
           
          Langsam entspanne ich mich und beginne, die nächtliche Fahrt zu genießen.
          Schließlich kommen wir an der Schranke und beim Pförtner unseres
          Campingplatzes an, wo meine aufgeregten Freunde mich erleichtert in
          Empfang nehmen. Ich aber bedanke mich bei meinem Retter mit einem Kuß
          auf seine Wange. Laut lachend fährt er davon. 
          Aus:
          „Halbstark und tüchtig“, Reihe ZEITGUT, Band 17.
           
          
           
          Inhalt
           »Unvergessene
          Ferienzeit« 
            
          Die
          Orte unserer Feriengeschichten 9 
          Vorbemerkungen 11 
          Liselotte
          Haak 
          Ein unvergeßlicher Sommer 13 
          Ingeborg Müller-Exo 
          Mit einer schwarzlackierten Kutsche in Großmutters Reich 19 
          Margot Linke 
          Die erste große Reise allein 24 
          Jan Eilers 
          „Luftschiff – – – marsch!“ 29 
          Heinrich Schröter 
          Starker Tobak 36 
          Reinhard Lauenstein 
          Zu Fuß durch Ostpreußen 38 
          Ursula Meier-Limberg 
          Mein Freund Klaus 46 
          Claus Cammann 
          Mein zweites Zuhause – der R.C. Obotrit 50 
          Helmar Stühmer 
          Abstecher in die große Welt 59 
          Gisela Schoon 
          Als „Ferienkind“ in Württemberg 63 
          Hans-Heinrich Vogt 
          Frust und Baldrian 66 
          Hermann-Josef Geismann 
          Unser Fräulein Hedwig 68 
          Gertrud Rehbein 
          Mit „Kraft durch Freude“ ins Allgäu 75 
          Hans-Heinrich Vogt 
          Fernweh 80 
          Claus Cammann 
          Freßferien 84 
          Gerhard Eschner 
          Ähren, Brot und Streuselkuchen 87 
          Alfredo Grünberg 
          Elf Mark für eine Lucky Strike! 91 
          Luise Rüth 
          Ferienglück 98 
          Irmgard Notz 
          An Speaker’s Corner 104 
          Paul Misch 
          Eine Radltour mit sechs Mädchen 107 
          Hans Engels 
          „Willkommen in Mittenwald!“ 113 
          Jürgen Hagenmeyer 
          Eine Nacht im „Alpen-See-Expreß“ 121 
          Gretel Hardeland 
          Getrübte Ferienfreude 125 
          Hiltrud Klüß 
          Wir träumten nicht nur von Italien 130 
          Jürgen Hagenmeyer 
          Der Autoreisezug 140 
          Falko Berg 
          Die Entdeckung einer Leidenschaft 142 
          Ingeborg Werneken 
          O mia bella Napoli 150 
          Erika Tappe 
          Eine italienische Nacht 154 
          Hans Engels 
          Noch 3 Pfennige 160 
          Marianne Ludorf 
          Ferien mit 80 Mark in der Tasche 164 
          Edith Rabe 
          Wir konnten uns nur zuwinken 168 
          Traute Siegmund 
          Schlangestehen lohnt immer! 172 
            
           
           
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